»Das Leben ist ein anderes…« 

Hans Keilson zum 90. Geburtstag (1999)


Hamburg (FAS) · Dezember 1999 · Als Hans Keilson 1984 gebeten wurde, ein Nachwort für die Neuauflage seines Buches »Das Leben geht weiter« zu schreiben, überkam ihn »das Gefühl, eine Art Nachruf, meinen eigenen, zu schreiben«. Ihm Frühjahr 1933 war Keilsons Erstling im S.Fischer-Verlag erschienen, 1934 von den Nazis verboten worden und erst fünfzig Jahre später in der Reihe »Verboten und verbrannt / Exil« im Fischer-Taschenbuch-Verlag wiederaufgelegt worden. In den fünfzig Jahren dazwischen ging in den Worten des Autors »bestimmt mehr verloren als nur die naive Hoffnung eines sehr jungen Mannes, der eben sein erstes Buch bei ›S. Fischer‹ herausgebracht hatte, Hoffnung, auf Erfolg, Ruhm, - ja, sagen wir es rundheraus: auf Unsterblichkeit.«

»Das Leben geht weiter«, so könnte auch das Motto dieses Aufsatzes lauten, der Gott­sei­dank kein Nachruf ist, und der doch andererseits auch zu Keilsons Unsterblichkeit keinen Beitrag leisten kann. Hans Keilson wird neunzig. Wer den agilen, wachen und in jeder Hinsicht beweglichen Autor, Lyriker, Arzt und Psychiater kennt, den wird es wundern. Neunzig, schon? Ja, neunzig, und in allen Ehren, und rufe man ihm zu, wie es unter Juden üblich ist: »Auf 120!« Da vieles in Hans Keilsons Leben zweimal zu geschehen pflegt, möge er die 120 voll und ganz und bei guter Gesundheit aus­schöpfen!

Der nun Neunzigjährige ist für das deutsche Publikum ein relativ junger Autor. Zwar erschien sein zweites Werk, die »Komödie in Moll«, bereits 1947 im niederländischen Querido-Verlag -  dem Buch im kleinen, aber bedeutenden Amsterdamer Emigrantenverlag gelang jedoch unter anderem wegen des damaligen Devisenmangels in Deutschland kaum der Weg zu den deutschen Lesern. Die tragikomische Geschichte über die Schwierigkeiten, denen sich Wim und Ma­rie in den von den Deutschen besetzten Niederlanden gegenübersehen, als Nico, ein bei ihnen untergetauchter Jude, an den Folgen einer einfachen Erkältung stirbt, fand erst durch eine Neuauflage im Jahre 1988 - wieder bei Fischer - größere Verbreitung bei einem (noch immer minoritären) Publikum, das sich in den Bann dieser Groteske aus den Zeiten der Schoah ziehen lässt.

Auch Keilsons drittes Buch, »Der Tod des Widersachers«, das ein Jahr später, 1989, bei Fischer erscheint, hat in seiner Erstauflage dreißig Jahre zuvor die Resonanz in Deutschland nicht gefunden, die es verdient hätte. 1996 wurde es dank seines inzwischen möglichen Erfolges wiederaufgelegt. Vielleicht ist es das Schicksal des hellsichtigen Autors, dass er seiner Leserschaft immer um Jahre voraus war. Aber »Bücher«, schrieb Keilson, »kann man wieder neu auflegen. Von Büchern gibt es schließlich Archivexemplare. Von Menschen nicht.«

Seine im niederländischen Exil und in der neuen Heimat verfassten Gedichte erscheinen 1986 und in späteren Neuauflagen unter dem Titel »Sprachwurzellos« in der Giessener Edition Literarischer Salon, ebenso 1992 das bereits 1943 im Versteck geschriebene Poem »Einer Träumenden«.

In seinem lyrischen Werk finden sich immer wieder Zeitspuren des Exils, im »Amsterdamer Lied« aus dem Jahre 1937 etwa:

Die Freiheit saß uns im Genick,

zuvor die Polizei.

In Amsterdam war es noch kalt

im Tulpenmonat Mai.

Weit draußen rauscht das große Meer

bei Zandvoort und Zaandam.

Doch dahinaus gelangt nur, wer

es auch bezahlen kann.

Es lebt sich in der schönsten Stadt

selbst mit der liebsten Frau,

wenn man dort keine Arbeit hat,

am Ende ungenau.

Denn wenn du nichts zu Beißen hast,

sei’s auch in Amsterdam,

dann nützt dir nichts das Ijsselmeer,

Marken und Volendam.

Kind, pack die Koffer wieder ein!

Zu Ende ist die Jagd.

Noch einmal über’n Rembrandtplein,

dann schmeiß dich in die Gracht!   

 

In seiner 1943 geschrieben »Variation« denkt Keilson »an Deutschland in der Nacht« -

Wie oft hab ich den Vers gelesen

und dessen, der ihn schrieb, gelacht.

Er wär mein Bruder nicht gewesen.

Ich nicht - ich bin aus andrem Holz,

dacht ich, mich kann die Axt nicht kerben,

ich trage meinen harten Stolz

im Leben hat, hart auch im Sterben?

Doch lieg ich jetzt und gar so wund

In fremdem Land und scheu das Licht.

Es tönt aus meines Kindes Mund

Ein andrer Klang als mein Gedicht.

Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer

Flieger herauf zur Phosphorschlacht.

Ich lieg auf meinem Lager schwer,

denk ich an Deutschland - in der Nacht.

»Sprachwurzellos«, der eigenen Heimat beraubt, oder, wie er in dem Gedicht »Schizoid« aus dem Jahre 1947 schrieb:

Steuern zahl ich in holland

Auf fetter klei

nur

die fußspur durchzieht noch

den sand der mark

und mein herz

trauert um jerusalem

Und wie vordem Heine, klingt hier der niederländische Dichter Jacob Israël de Haan an, der sich in Amsterdam nach Jerusalem und in Jerusalem nach Amsterdam verzehrte. 

Einige Stationen seines Lebens sind in den biographischen Notizen nachzulesen, die seinen Schriften beigefügt sind. 1909 in Bad Freienwalde an der Oder geboren, studierte Keilson ab 1928 in Berlin Medizin, das Studium finanzierte er sich unter anderem mit seiner Trompete, 1934 absolvierte er sein ärztliches Staatsexamen. Da ihm als Jude viele Wege im nationalsozialistischen Deutschland versperrt sind, wechselt er in seinen zweiten Beruf als staatlich geprüfter Turn-, Sport- und Schwimmlehrer an Schulen der jüdischen Gemeinde in Berlin, u.a. im Landschulheim Caputh. 1936 überzeugt ihn seine Frau Gertrud Manz, Deutschland zu verlassen. Von einer Reise in die Niederlande hat sie ihm eine Platte mit niederländischen Kinderliedern mitgebracht, um ihm zu beweisen: »In Holland gibt es auch Kinder, für die du arbeiten kannst«.

In seinem deutschen Pass steht der Vermerk »nach sieben Tagen bei der Polizei melden.« - »In den folgenden drei Jahren spürte ich weder Reue noch Kummer. Die Freiheit hatte mich inzwischen am Kragen wie früher die Polizei. Kummer kam erst später, als im Mai 1940 andere Passinhaber, Deutsche und Österreicher (die allerdings Wehrpässe hatten ohne den obengenannten Vermerk), mir nachfolgten und sich hier breit machten. Mit ihrem Abzug verschwand auch der Kummer, statt dessen begann eine Trauerarbeit, die noch stets andauert.« Die deutsche Besatzung überlebt er im Versteck, wo er als Arzt für den Widerstand tätig ist. Nebenher schreibt er Gedichte, Prosa - auch eine erste Fassung vom »Tod des Widersachers« entsteht und wird vergraben. Unmittelbar nach dem Krieg arbeitet Keilson für die jüdische Organisation »Le Ezrat Hajeled«, zu deren Mitbegründern er zählt, und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, jüdischen Kindern, die durch das Mordgeschehen zu Waisen geworden sind - viele von ihnen sind durch das Leben im Versteck und das Überleben in den Vernichtungslagern traumatisiert - zur Seite zu stehen. In den Gesprächen mit den Kindern stößt der Arzt an Grenzen, »wohin die Sprache nicht reicht«, wie er später schreiben wird.

Hans Keilson muss sein Medizinstudium in den Niederlanden wiederaufnehmen, um die dortige Anerkennung als Arzt zu erlangen. Er lässt sich zum Psychiater und Psychoanalytiker ausbilden und promoviert im Alter von sechzig Jahren mit einer 1979 erschienenen Arbeit über die »Sequentielle Traumatisierung bei Kindern«, die wesentliche neue Erkenntnisse für die psychoanalytische Traumaforschung bereithält. 1985 bis 1988 ist er Präsident des »PEN-Zentrums German speaking writers abroad«. Es folgen Ehrungen wie die Verleihung eines Dr. h.c. an der Universität Bremen, das Bundesverdienstkreuz und 1996 eine Gastprofessur auf dem Franz-Rosenzweig-Lehrstuhl in Kassel, und  1999 die Aufnahme als korrespondierendes Mitglied in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Seine Geburtsstadt Bad Freienwalde verleiht ihm 1995 dank des Engagements des Drehbuchautors Eberhard Goerner die Ehrenbürgerschaft (vor ihm war diese Ehre, wie er später erfährt, auch Adolf Hitler zuteil geworden, dem man sie erst noch aberkennen muss). In einem Dokumentarfilm dokumentieren Wakter Rösing und Marita Barthel-Rösing den nicht ganz leichten Weg zurück in die Mark Brandenburg.

Hans Keilson lebt im niederländischen Bussum, sein Deutsch hat einen unverkennbaren niederländischen Akzent gewonnen, und sein Resümee über »Fünfzig Jahre in Holland« für die Jubiläumsausgabe zum 150jährigen Bestehen der angesehenen niederländischen Literaturzeitschrift überschrieb er mit den Worten »Lieber Holland als Heimweh…«

Mit Blick auf den Nationalsozialismus und Auschwitz schrieb er in dem »Tod des Widersachers«: »Vielleicht ist es trügerisch, die Zeit in die Jahre ›davor‹ und ›danach‹ einzuteilen, wie es die Geschichtsprofessoren tun, wenn sie die Historie, die sie zu beschreiben gedenken, erfinden. Das Leben ist ein anderes.« Immer wieder hat er in Vorträgen, Essays und Gedichten die Ambivalenzen im Umgang mit dieser Geschichte seziert, analysiert und beschrieben, hat sich den Grenzen des Beschreibbaren von allen Seiten ge­nähert und dort, wo sie in Worte nicht zu fassen waren, immerhin ihre Position markiert.

Die von dem Hamburger Psychoanalytiker-Kollegen Dierk Juelich initiierte Fest­schrift zu Keilsons achtzigstem Geburtstag, der im Hamburger Literaturhaus begangen wurde, vermochte es, eine Würdigung von Keilsons literarischen und wissenschaftlichen Werken zusammenzuführen. Viele kennen und schätzen den Lyriker, den Schriftsteller oder den Psychoanalytiker Hans Keilson, wobei gerade die Gesamtschau auf sein Oeuvre zeigt, wie stark ähnliche Motive durch alle seine Schriften gehen - ob es um die Spuren des Exils, der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus oder mit den traumatischen Folgen der Verfolgung geht. Als Dichter wie als Wissenschaftler zeichnen diesen Chronisten unseres Jahrhunderts ein scharfer analytischer und zugleich empathischer Blick aus, eine genaue Sprache und eine Haltung, die man auf Jiddisch mit dem Wort »Mensch« bezeichnet.

Begegnungen

Im Frühjahr 1989 hatten wir Hans Keilson als Referenten für eine Tagung am Hamburger Institut für Sozialforschung gewonnen, in der über die Bedeutung des Antisemitismus in der bundesdeutschen Linken debattiert wurde. In der Eppendorfer Wohnung eines Kollegen und Freundes von ihm saßen wir bei einem Glas Sherry beisammen, und ich wusste, dass ich später behaupten würde, dass im Kamin ein Feuer brannte, um der Bedeutung dieses Zusammentreffens und dem Ambiente, in dem es stattfand, Nachdruck zu verleihen. Keilson fragte, was wir, seine beiden deutschen Gesprächspartner, von Richard von Weizsäcker hielten - er habe ihm 1985, auf dessen Rede zum 8. Mai hin, gleich geschrieben und ein Exemplar seiner späten Dissertation zugeschickt. Ich biss mir auf die Zunge. 1985 war ich zu einem Gespräch mit dem Leiter der Auslandsabteilung des Bundespräsidialamtes nach Bonn eingeladen worden, das der Vorbereitung des ersten Staatsbesuches von Richard von Weizsäcker in Israel dienen sollte. Man wollte von einem Teilnehmer des »Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten« erfahren, was vonseiten junger Deutscher für Erwartungen an diese Visite bestünden. Am Ende des Gesprächs stand nicht die insgeheim erhoffte Einladung mitzureisen. Dafür erhielt ich einige Wochen später ein Buch zugesandt, das der Bundespräsident gerade von dessen Autor mit einer Widmung erhalten hatte; da ich mich mit dem Thema dieser Studie, den Folgen der Verfolgung, auseinander zu setzen begonnen hatte, sei dieses Buch doch sicherlich sehr interessant für mich. Sein Autor war Hans Keilson. (Unglücklicherweise habe ich das Buch später einmal an einen befreundeten Medizinstudenten verliehen, der dann Hamburg mitsamt dem Buch spurlos verließ…).

Zur Feier seines achtzigsten Geburtstags schenkte ihm einer der Gäste einen Stapel Blankopapier. In einem Zeitungsartikel über eine psychoanalytische Tagung zu den Folgen der Verfolgung vom Ende der siebziger Jahre war Hans Keilson zitiert worden - deutsche Teilnehmer hatten ein gemütliches Beisammensein mit Wehrmachtsliedern ausklingen lassen, und Keilson erklärte, er beabsichtige, diesen Vorfall in seinen nächsten Roman aufzunehmen. Man wartet drauf.   

Als Hans Keilson das Bremer Rathaus nach dem Empfang aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ihn verließ, fiel sein Blick auf das gegenüberliegende Haus der Heimatvertriebenen, auf dem in großen Lettern das Leid der Vertreibung und der deutschen Teilung beschrieen wurde. Leise merkte der ebenfalls aus seiner Heimat Vertriebene an: »Da fehlt ein Satz wie ›Das danken wir unserem Führer Adolf Hitler.« 

In einer Diskussion über Erziehung nach und über Auschwitz ließ er, als es um die notwendige »Reife« der Schüler ging, ganz beiläufig den messerscharfen Satz fallen, Reife sei eine Kategorie für Melonen, nicht für Menschen.

Gelegentlich beginnt er einen Satz mit den Worten »Ich sage immer zu meinen Patienten…«, um sich dann kokett als »etwas unorthodoxer Psychoanalytiker« zu entschuldigen: »Sagen Sie’s meinen Kollegen nicht weiter, aber ich rede viel mit meinen Patienten.« Als ein tragendes Motiv für seine Arbeit als Psychoanalytiker gibt er »Neugier« an, und man glaubt es ihm unbesehen. Er hört zu, er gibt zu bedenken. Er brennt darauf, mehr von Menschen zu erfahren.

Für einen gemeinsamen Freund wollten wir zum Geburtstag eine Festschrift zusammenstellen. Sie sollte nicht dem Freund selbst, sondern Jochanaan Leuchtentrager gewidmet sein - einer Figur aus Stefan Heyms Roman »Ahasver«, die uns alle sehr beeindruckt hatte (eine Danksagung an ihn findet sich bereits in der Festschrift zu Hans Keilsons achtzigsten Geburtstag). Als ich ihn anrief und bat, von seiner Begegnung mit Leuchtentrager im Berlin der Zwanziger Jahre zu berichten, erinnerte er sich sofort an den Kommilitonen: »Ich erinnere mich genau, der Hans Leuchtentrager spielte in einer anderen Combo eine schmutzige Trompete«. Ich konnte sie aus diesen Worten hören. In seinem schriftlichen Beitrag für diese leider unveröffentlichte Festschrift schilderte Keilson dann die weithin unbekannte Begegnung von Leuchtentrager mit Sigmund Freud, der die Entwicklung der Psychoanalyse wesentliche Impulse verdankt.

Als seine Tochter aus zweiter Ehe in den siebziger Jahren geboren wurde, sorgte Hans Keilson sich, ob er noch erleben würde, dass sie zur Schule komme. Vor wenigen Jahren hat er erlebt, wie sie die Schule erfolgreich verließ.

Manchen seiner jüngeren Freunde treibt nun die Sorge um, ob wir das Erscheinen seines nächsten Romans noch erleben. Er hat ihn uns versprochen, und er hat einen langen Atem. Oft scheint es, als hätte er den längeren Atem. Auf die nächsten schaffensreichen Dekaden eines junggebliebenen Autors!

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