Exposé zu einem Berliner »Gedächtnisort«

von Dr. Matthias Heyl (1998)


Wir dokumentieren hier einen Vorschlag des Leiters der FAS, Matthias Heyl zur Gestaltung des »Hauses der Erinnerung« vom Dezember 1998.

  

Einleitung

Die andauernde Debatte um ein Holocaust-Mahnmal in Berlin legt eine Neuorientierung nahe. Die Idee eines Mahnmals als Gedenkstätte für die ermordeten Juden hat – angesichts des »monumentalen« Ausmaßes der Tat zu einer Reihe »monumentaler« Entwürfe geführt, die in der Kritik stehen.

Der Diskussion und ihrem Ergebnis werden für die Identität und Selbstdarstellung der »Berliner Republik« große Bedeutung beigemessen. Mit einer Positionierung des zu schaffenden Ortes im Regierungsviertel (ähnlich wie das US Holocaust Memorial Museum auf der Mall in Washington D.C.) wird einerseits die zentrale Bedeutung des Holocaust für die deutsche Geschichte Rechnung getragen und Ausdruck verliehen, andererseits aber auch die politische Aufladung der Debatte erhöht.

Das Für und Wider eines Mahnmals und seiner jeweiligen Realisierung ist bislang vorwiegend vor dem Hintergrund seiner Dimension und der Dimension der Tat geführt worden, wobei Fragen der Darstellbarkeit, Angemessenheit und Umsetzung in den Mittelpunkt der Debatte rückten.

Der Vorschlag, einen Gedenkort zu schaffen, der zugleich Aufklärung über das Geschehen leisten soll und historische Spuren bewahren soll, weist dabei in eine neue Richtung. Gedenken wird so um historisch konkrete Erinnerung angereichert.

Von Seiten der Gedenkstätten ist die Idee eines zentralen »Holocaust-Museums« vehement abgelehnt worden, da es die historischen Orte gebe, an denen sich die Geschichte des NS-Terrors konkret bearbeiten ließe. Eine zentrale Berliner Einrichtung wird als Konkurrenz erfahren – dies auch vor dem Hintergrund der oft schwierigen Haushaltslage der bestehenden Gedenkstätten. Zugleich wird etwa auf die Berliner Gedenkstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« und auf die Ausstellung »Topographie des Terrors« hingewiesen.

Um diesen Bedenken zu begegnen und doch einen zentralen Ort der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust zu schaffen, müsste die zu schaffende Berliner Einrichtung Aufgaben übernehmen, die so von anderen Einrichtungen nicht übernommen werden.

Dieses Exposé soll eine zentrale Einrichtung, ihre Möglichkeiten und Herausforderungen skizzieren, die eine historische Auseinandersetzung mit dieser Geschichte fördert und selber Ausdruck der Auseinandersetzung ist.

 

Zu Aufgaben und Konzeption

Gedenken, Erinnern, Lernen – Lernen, Erinnern, Gedenken

In Berlin soll ein zentraler Gedenk- und Erinnerungsort geschaffen werden.

Bevor der Opfer des Holocaust gedacht werden kann, bedarf es der historischen Erinnerung. Nur so wird der Holocaust nicht aus der Geschichte gleichsam herausgehoben und enthistorisiert. In der bloßen Konzentration auf die Opfer des Holocaust würde eine Tendenz fortgesetzt, die die Hamburger Historikerin Monika Richarz beschrieben hat, wenn sie – in Auseinandersetzung mit den lokalgeschichtlichen Studien zur jüdischen (Verfolgungs-)Geschichte vor Ort – schrieb, dass Auschwitz darin häufig wie eine »Tat ohne Täter« erscheine, weil vielfach die Geschichte der Juden dargestellt werde, ohne dass ihre nichtjüdische Umgebung – und die konkreten Täter im Verfolgungszusammenhang – hinreichend thematisiert und dargestellt würden.

Daher sollte ein Ort, der dem Gedenken der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft an die jüdischen Opfer des Holocaust gewidmet ist, nicht bei der Nennung der Opfer und der Rekonstruktion ihrer Geschichte(n) stehenbleiben, sondern die historische Erinnerung u.a. an die Täter einschließen. Darin läge die besondere Herausforderung an einen zentralen deutschen Erinnerungsort.

Der Theologe Fulbert Steffensky formuliert eine Option und Funktion des Gedenkens an die Ermordeten auf nichtjüdischer Seite:

»Zumindest dies könnte man von den Toten lernen: was nicht geschehen soll und was Menschen nicht angetan werden soll.«

Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries gibt dagegen zu bedenken:

»Wir müssen die Täter in den Blick bringen, und zwar nicht nur, weil man das Geschehen erst dann versteht, sondern weil das Wiederholungsrisiko auf der Täterseite liegt und nicht auf der Opferseite, das hat schon Adorno erkannt.«

Auf Täterseite erscheint es demnach sinnvoll, den Blick auch auf die Täter zu wenden, um – in Anlehnung an das Zitat von Steffensky – zu lernen, »was nicht geschehen soll und was Menschen nicht angetan werden soll.«

Die so eingeforderte historische Erinnerung an die Täter konkurriert nicht notwendigerweise mit dem Gedenken an die Opfer, sondern präzisiert gerade die kollektiv tradierte Verantwortung der Nachgeborenen.

Wo Gedenken historischem Lernen und historischer Erinnerung nicht folgt, sondern es zu ersetzen sich anschickt, werden seine Formen und Inhalte fast zwangsläufig wenig Bedeutung für die Gedenkenden erhalten. Derlei Gedenkrituale würden formelhaft und inhaltslos. Gerade wegen der besonderen Abhängigkeit des Gedenkens von der Leistungsfähigkeit Gedächtnisses und der Erinnerung bedarf es einer deutlichen analytischen Trennung von Gedenken, Erinnern und historischer Aufklärung und Bildung. Alle diese Elemente sollten jedoch zusammengeführt werden, wobei sich die Reihenfolge umzukehren scheint. Für nichtjüdische Deutsche – zumal für die nach 1945 Geborenen – stehen historische Aufklärung, Bildung und Auseinandersetzung vor der Erinnerung, die wiederum vor dem Gedenken steht.

Nachgeborene verfügen über keine eigene Erinnerung an das Geschehene. Erst durch historische Aufklärung und Bildung, durch Lernen, eignen sie sich ihre Geschichte an, wird diese zum Teil ihrer Erinnerung. Insofern sollte ein Gedenkort für die Ermordeten auch ein Lernort über die Geschichte des Holocaust sein.

Mit dem Vorschlag, das Videoarchiv der »Survivors of the Shoah Visual History Foundation« in die Konzeption eines solchen Ortes aufzunehmen, weist in die Richtung, historisch konkret zu werden und den Erinnerungen der Überlebenden einen Raum zu geben. Dadurch wird deutlich, dass ihre Erinnerungen in der »Berliner Republik« ihren Platz haben.

Ein Lernort, ein Ort der Auseinandersetzung, sollte jedoch nicht nur in Hinblick auf die Opfer des Holocaust biographisch konkret werden, sondern auch mit Blick auf die gesamte »Gesellschaft des Holocaust«.

 

Täter, Opfer, Retter, Zuschauer – die »Gesellschaft des Holocaust«

Schließlich gehen immer mehr Einrichtungen, die sich im Bereich der »Erziehung nach Auschwitz« im Sinne einer »Erziehung über Auschwitz« (»Holocaust Education«) widmen, dazu über, in der biographischen Konkretion Entscheidungssituationen und Handlungsspielräume einzelner während des Holocaust in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. Dabei geht es etwa um die allmähliche Konditionierung von »ganz normalen Männern« (Christopher Browning) zu Tätern, um die Entwicklung von ebenso normalen Menschen, die erst als Zuschauer dastanden, zu Rettern, oder aber um die Dilemmata und »choice-less choices« der Juden in den Gettos und Vernichtungslagern.

Verschiedene Stränge der historischen und sozialpsychologischen Forschung über Täter, Opfer, Retter und Zuschauer werden so allmählich auf pädagogischem Terrain zusammengeführt.

In der konkreten biographischen Auseinandersetzung wird es so auch Nachgeborenen eher möglich, die Komplexität des damaligen Geschehens zumindest ansatzweise zu erfassen. Diese Form der Arbeit wirkt einer vielfach konstatierten »Derealisierung« des Holocaust entgegen, in der oft Täter, Opfer und Retter gleichermaßen der historischen Realität enthoben werden: Allzu oft werden einige wenige Täter behandelt, die diabolisiert werden, oder deren Handlungsweise mit Hinweisen auf ihren Sadismus oder die »Banalität des Bösen« schnell ausgedeutet und »erledigt« wird; die Opfer werden vielfach in der Zahl der sechs Millionen zum Verschwinden gebracht oder in der Auseinandersetzung mit ihren Geschichten identifikatorisch vorschnell vereinnahmt; die Retter werden häufig nicht in ihren Ambivalenzen gezeigt, sondern einseitig als Helden, ohne dass ihre Ängste und Zweifel zur Sprache kämen; die Zuschauer fallen bei diesen Betrachtungen nur allzu oft ganz aus dem Blickfeld.

Gerade für das historische Lernen über den Holocaust sind die Zuschauergeschichten von besonderer Bedeutung. Der israelische Historiker Yehuda Bauer hat einmal als zentrale »Lehre aus der Geschichte« des Holocaust formuliert:

»Thou shalt not be a victim. Thou shalt not be a perpetrator. Above all, thou shalt not be a bystander.«

Yitzchak Mais hat diese verschiedenen Perspektiven, die sich in Deutschland, Israel und den USA mit der Schoah verbinden, in Hinblick auf mögliche museale Umsetzungen so beschrieben: hat diese verschiedenen Perspektiven, die sich in Deutschland, Israel und den USA mit der Schoah verbinden, in Hinblick auf mögliche museale Umsetzungen so beschrieben:

»The events of the Holocaust are usually divided into three dimensions, as per the historical characters: (1) perpetrators; (2) victims; (3) bystanders. The last category refers to the countries not under Nazi domination and also to the non-Jewish citizens of the Nazi-occupied nations. […] The determining factor is […] the degree of symmetry and proportion given to each of the historical components when the composite story line of the Holocaust is presented either in a school curriculum or in a museum exhibition. The dimension emphasized is primarily a function of where and for whom the exhibition is displayed - the ›local‹ interests of the visitors and the messages one wants to impart to the museums’ visitors.«

Mais formuliert hinsichtlich der Akzentuierungen des Geschehens in Deutschland: formuliert hinsichtlich der Akzentuierungen des Geschehens in Deutschland:

»A Holocaust memorial museum or exhibition in Germany would naturally emphasize the dimension of the perpetrators, not so as to perversely glorify the murderers but rather to emphasize what is essential and germane for the visitors to the German museum to extrapolate from the events of the Holocaust. The most basic question for Germans visiting a Holocaust exhibition lies in the realm of the perpetrator: how did a nation and people with whom I share a common history, language and cultural tradition evolve into the Nazi state, with its moral transgressions and the murder of millions of innocent men, women and children?«

Eine solche Präsentation in Deutschland werde, so Mais weiter, auch die Geschichte der Opfer darstellen, denn es sei absurd, sich hier eine »Jew-free story line« vorzustellen. Eine weitere Möglichkeit sei, dass die Rolle der Zuschauer oder das Ausbleiben einer internationalen Reaktion auf die Schoah mit großem Nachdruck beschrieben werden würde –

»If it did, the visitor might well get the message that evil actions - or inaction - are not only limited to Germany. Thus, at this museum, a disproportional focus on the lack of world response would be undesirable because it might allow German visitors to avoid the subject rather than confront the Holocaust and its implications.«

Die Herausforderung einer zentralen Berliner Einrichtung wäre, ähnlich dem Trend in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, etwas zu leisten, was etwa die Gedenkstätten mit ihrem lokalen Bezug auf die Tat und mit der Konzentration auf Täter und Opfer so nicht leisten können: eine komplexe Gesamtschau zu versuchen, in der Täter, Opfer, Retter und Zuschauer gleichermaßen dargestellt werden.

Viele der insbesondere amerikanischen »Holocaust Curricula« verbinden die Thematisierung der Zuschauer, die dies oder jenes geschehen ließen, mit den Fragen von Demokratie, Engagement, Zivilcourage und politischer Partizipation. Die Rolle der Zuschauerschaft in jeder Gesellschaft wirft Fragen und Probleme auf, die sich in der Zeit des Holocaust noch einmal verschärft stellen.

Ohne den Holocaust als »soziologisches Laboratorium« zu missbrauchen und für die Legitimation der Demokratie zu instrumentalisieren (und dafür brauchte es den Verweis auf Auschwitz nun wirklich nicht), lassen sich aus der Beschäftigung mit dem Holocaust durchaus Fragen für die Gegenwart gewinnen, die auch für die Gestaltung unserer gesellschaftlichen Gegenwart und Zukunft von Bedeutung sind.

Wie aus Zuschauern unter bestimmten Bedingungen zur Zeit des Holocaust Täter, Mitläufer oder aber Retter wurden, muss uns auch in einer funktionierenden Demokratie interessieren. Hierzu bedarf es sicherlich weiterer Forschungsbemühungen, aber der derzeitige Forschungsstand reicht sicherlich hin, um eine öffentliche Auseinandersetzung anzustoßen und zu fördern.

In der pädagogischen Arbeit hat sich ein Modell bewährt, das die »Gesellschaft des Holocaust« zu beschreiben sucht. Es wurde aus der Arbeit zur deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus gewonnen, lässt sich aber – mit Einschränkungen – auf die Gesamtsituation zur Zeit des Holocaust übertragen.

Im Rahmen dieses Schemas, das nicht statisch ist, lassen sich Biographien interpretieren und dadurch erschließen.

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Im Zentrum stehen die Zuschauer – gleichsam die Ausgangssituation der meisten Nichtjuden zur Zeit des Holocaust. In Entscheidungssituationen, die sich in der biographischen Arbeit konkretisieren lassen, haben sich einzelne entschieden, eine andere Position einzunehmen – als Mitläufer, Helfer der Täter oder Täter, oder aber als Helfer der Verfolgten oder Opponenten, die dadurch selber Verfolgte wurden. Den Juden wurde von den Nazis kein Zuschauerstatus zugebilligt – sie wurden verfolgt. Das Modell eignet sich als Folie zur Interpretation einzelner Biographien oder kollektiver Prozesse.

 

Am Beispiel Oskar Schindlers etwa lässt sich zeigen, dass er den Zuschauerstatus durch seine Entscheidung, der NSDAP beizutreten, an den »Arisierungen« profitieren zu wollen, dann aber »seine« Juden retten zu wollen, mehrfach gegen eine neue Position wechselt. Damit wird das Subjekt der Geschichte, der einzelne Mensch in seinen Entscheidungen und Handlungsspielräumen, in den Mittelpunkt gesetzt, zugleich aber das subjektive Element der Interpretation deutlich. Die Schüler diskutieren dann über die Frage, ob Schindler zeitweilig Mitläufer (2) oder Nazi (2), Helfer der Täter (3) oder Täter (3) war, worin das Moment und die Motive liegen, zum Helfer der Verfolgten (oder Retter - 4) zu werden, um damit selber potentiell Verfolgter zu werden.

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Zugleich werden Fragen besprechbar und konkretisiert, die durch ihre moralische Aufladung häufig nur schwer zu behandeln sind. In altersgemäßem moralischen Rigorismus formulieren Schüler oft anfangs einen Vorbehalt gegenüber dem Zuschauerstatus (»Wer schweigt, wird mitschuldig«), stoßen aber in der konkreten Auseinandersetzung mit biographischen Quellen und in den unterschiedlichen Interpretationen auf die Komplexität des Geschehens, die schnelle Urteile erschwert und Reflexion fordert.

Dieses Modell könnte – neben einer Strukturierung des historischen Geschehens nach Raul Hilberg  – einen neuartigen Zugriff auf die Geschichte des Holocaust auch in einer »musealen« Präsentation bieten.

Konkret ließe sich denken, dass in Berlin Biographien von Tätern, Opfern, Rettern und Zuschauern – in Videointerviews, Fotos und Dokumenten – präsentiert werden, die Entscheidungssituationen und Handlungsspielräume darstellen, ausloten und zur Interpretation einladen.

Die dafür erforderlichen Materialien wären in verschiedenen Archiven, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und in Interviews zu suchen. Durch die Sammlungsaktivität der Berliner Einrichtung ließe sich so ein eigenes Archiv schaffen, das ein Gedächtnisort besonderer Qualität wäre, und damit zugleich ein Zentrum der Forschung und des Lernens. Der Sammlungsprozess selber wäre ein fortdauernder, nach Erfahrungen anderer teilweise ähnlicher Einrichtungen (mit anderem Fokus, wie das Washingtoner US Holocaust Memorial Museum oder die israelische Gedenkstätte Yad VeShem) nicht abzuschließender.

Die Sammlung könnte im Verbund etwa mit dem Bundesarchiv und anderen Einrichtungen Wissenschaftlern und anderen Interessierten – unter Berücksichtigung der datenschutz- und archivrechtlichen Bestimmungen – einen zentralen Zugriff auf verschiedenste externe Sammlungen bieten.

Aus der Sammlung könnten in Wechselausstellungen beispielhaft Biographien vorgestellt werden. Es erscheint dabei als sinnvoll, dass nebeneinander Täter-, Opfer-, Retter- und Zuschauerbiographien stehen, oder auch uneindeutigere Lebensläufe. Denkbar wäre auch, dass dabei zu einer Person verschiedene Ausstellungen zustande kommen, weil die Interpretationen der Ausstellungsmacher voneinander abweichen.

 

Historischer Rahmen

Die Ausstellung sollte um einen historischen Rahmen ergänzt werden, der die biographisch konkretisierenden Formen Auseinandersetzung strukturiert und einbettet. Damit würde zugleich verhindert, dass die Lebensgeschichten zu einer letztlich beliebigen Sammlung von Histörchen würden.

Ausgehend von Raul Hilbergs Modell zur Struktur des Geschehens ließe sich eine historische Ausstellung denken, die den Prozess der Verfolgung und Ermordung charakterisiert:

»Der Weg zur Vernichtung«, so Hilberg, »führte direkt über diese jahrhundertealten Stufen« - direkt, aber nicht zwangsläufig. Aus der Definition der Juden folgte nicht notwendigerweise die Enteignung, aus der Enteignung nicht die Konzentration und aus der Konzentration nicht die Vernichtung. Die Definition, wer als Jude zu gelten habe, war jedoch z.B. die Voraussetzung für die folgenden Maßnahmen. Hilberg selbst schreibt:

»Der Vernichtungsprozess entfaltete sich nach einem feststehenden Schema. Er entsprang gleichwohl keinem grundlegenden Plan. 1933 hätte kein Bürokrat vorhersagen können, welche Art von Maßnahmen man 1938 ergreifen würde, noch war es 1938 möglich, den Ablauf des Geschehens im Jahre 1942 vorherzusehen. Der Vernichtungsprozess war eine Schritt für Schritt erfolgende Operation, und der beteiligte Beamte konnte selten mehr als den jeweils folgenden Schritt überschauen.«

Die Herausarbeitung dieser Struktur ist also wiederum ein retrospektiver, interpretativer Vorgang, der uns helfen kann, historische Konstellationen und Situationen einzugrenzen, mit denen das Geschehen jeweils in eine qualitativ neue Phase eintrat. Damit werden zugleich Entscheidungssituationen deutlich, an denen Akteure wie beispielsweise die von Hilberg erwähnten Bürokraten dem Geschehen willentlich eine neue Richtung gaben oder zu einer Radikalisierung des Prozesses beitrugen.

Durch diese Struktur wird es uns möglich, die Schritte auf dem Weg nach Auschwitz zu verfolgen, ohne ihnen einerseits eine Zwangsläufigkeit oder gar Naturwüchsigkeit zu unterstellen. Andererseits lässt sich über die innere Logik der Abfolge reflektieren, über das Moment der Kontinuität bzw. der Diskontinuität.

Eine solche oder eine gleichwertige Strukturierung erscheint zugleich als unabdingbare Voraussetzung, um auf der kognitiven Ebene einen Bezugsrahmen herzustellen, der in der pädagogischen Praxis eine tragfähige Basis dafür liefert, reflektiert mit dem Thema umzugehen und zusätzlich auch dessen verständlicherweise hohe affektive Besetzung auszuhalten und mit ihr produktiv umzugehen.

 

Skizze der Themenschwerpunkte

Rahmen I: Deutschland Fokus: Holocaust Rahmen II: Europa / Welt
Abschnitt I

Vorgeschichte: Deutsche Geschichte; Deutscher Nationalismus, völkische Bewegung, Vorläufer des Nationalsozialismus. Deutsche Geschichte; Deutscher Nationalismus, völkische Bewegung, Vorläufer des Nationalsozialismus.

Abschnitt I

Vorgeschichte: Juden in Deutschland und Europa zur Jahrhundertwende bis zum Beginn des Nationalsozialismus.

Abschnitt I

Vorgeschichte: Jüdische Kultur und Geschichte; Längsstudien zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus; Europa zur Jahrhundertwende bis zum Beginn des Nationalsozialismus.

Abschnitt IIa

Vor der Vernichtung:

NS-Terrorsystem, SS-Staat, politische Verfolgung, Propaganda.

Abschnitt IIa

Vor der Vernichtung:

Definition, Entrechtung, Enteignung und Ausgrenzung der Juden; Reaktionen: Widerstand, Auswanderung, kulturelle Selbstbehauptung, Selbstmord.

Abschnitt IIa

Vor der Vernichtung:

Faschistische Bewegungen in Europa und Reaktionsformen in anderen Ländern.

Abschnitt IIb

Euthanasie [T4-Aktion als Erprobung der Massenvernichtung]; andere verfolgte Gruppen, z.B.: Roma und Sinti, politische Gegner der Nazis, Zeugen Jehovas, Völker im besetzten „Osten", Homosexuelle; Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung; Zuschauer, Mitläufer, Nazis, Helfer der Nazis, Profiteure, Täter, Helfer der Verfolgten, Widerstand.

Abschnitt IIb

Der Holocaust: Konzentration, Gettoisierung, Deportation, Vernichtung; Reaktionen: kulturelle Selbstbehauptung, Widerstand, Rettungsversuche, Beispiele für Solidarisierungen. Konzentration, Gettoisierung, Deportation, Vernichtung; Reaktionen: kulturelle Selbstbehauptung, Widerstand, Rettungsversuche, Beispiele für Solidarisierungen.

Abschnitt IIb

Der Holocaust: Länderstudien: Studien zu einzelnen besetzten Ländern, z.B.: Niederlande (Westeuropa), Polen (Osteuropa); die „freie Welt": z.B.: USA.

Reaktionen auf das Geschehen.

Abschnitt IIIa

1945: Befreiung / Zusammenbruch in Deutschland.

Abschnitt IIIa

1945: Befreiung.

Abschnitt IIIa

1945: Befreiung: Länderstudien.

Abschnitt IIIb

Umgang mit der Geschichte: alliierte Prozesse; Entnazifizierung; Re-education; Abdrängung.

Abschnitt IIIb

Überleben nach dem Überleben; DPs; Israel / andere Zufluchtsorte.

Abschnitt IIIb

Umgang mit der Geschichte: Länderstudien.

Abschnitt IVa

Aktuelle Erscheinungen und Diskussionen.

Abschnitt IVa

Aktuelle Erscheinungen und Diskussionen.

Abschnitt IVa

Aktuelle Erscheinungen und Diskussionen.

Abschnitt IVb

Wechselausstellungen zu regional- und lokalgeschichtlichen Schwerpunkten oder thematischen Aspekten.

Abschnitt IVb

Wechselausstellungen zu regional- und lokalgeschichtlichen Schwerpunkten oder thematischen Aspekten.

Abschnitt IVb

Wechselausstellungen zu landesspezifischen Schwerpunkten oder thematischen Aspekten.

 

Zentraler Ort – zentrale Aufgaben und Bedeutung

Ein solcher zentraler Gedächtnisort, der separate Sammlungen unter einem Dach vereinte und durch eine Ausstellung zugleich die biographische Konkretion und einen Überblick zur Geschichte des Holocaust lieferte, würden den Erfordernissen einer historisch-politischen Bildung Rechnung tragen, aktives Erinnern fördern und die Notwendigkeit des Gedenkens – mehr noch: das Anrecht der Ermordeten auf unser Gedächtnis und Gedenken – verdeutlichen und dokumentieren.

Zugleich bliebe das Gedächtnis kein halbes, da auch neben den Opfern die Täter, Zuschauer und Retter Gesichter erhielten. Der Täter müssen wir nicht gedenken, aber erinnern müssen wir sie, sonst würde der bereits eingangs zitierte Einwand von Monika Richarz außer acht gelassen, Auschwitz nicht als »Tat ohne Täter« erscheinen zu lassen.

Mit dem Horizont, der hier entfaltet werden könnte, wäre jede andere Gedenk- oder Bildungsstätte überfordert.

Gerade weil der Ort der Berliner Einrichtung nicht – im Sinne der Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager – ein unvermittelt historischer ist, sondern den lokalen Bezug erst herstellen muss, liegt hier eine Chance: die »Berliner Republik« erklärt und dokumentiert, wie sie zu einem Teil ihrer Vorgeschichte steht.

Damit entstünde ein ganz eigener Gedächtnisort, ein

Ort des Lernens, der sich – wie alle geeigneten pädagogischen Prozesse – einem schnellen und inhaltslosen Gedenkritual verschlösse, weil dort kritisch gefragt und interpretiert wird,

Ort der Forschung für eine interdisziplinäre und internationale Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust – ein Zentrum dessen, was international mit dem Begriff »Holocaust Studies« gefasst wird,

einmaliges Archiv einmaliges Archiv mit biographischen Quellen und Zugängen, mit biographischen Quellen und Zugängen,

würdiger Ort des Erinnerns und Gedenkenswürdiger Ort des Erinnerns und Gedenkens, der das sperrige, angreifende und komplexe Thema Holocaust nicht simplifizierte, bagatellisierte oder vorschnell in rituelle Gedenkformen entließe,

Ort der Reflexion über die jeweils eigene Geschichte – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Ein solcher Ort stünde der »Berliner Republik« gut an. Er dokumentierte nach innen wie nach außen die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, sich dieser Geschichte an zentralem Ort zu stellen, und er förderte die weitere Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. Zugleich wäre es ein Treffpunkt für Angehörige verschiedener Generationen, Disziplinen und Nationen, ein Ort der Auseinandersetzung, nicht gleichsam verwalteter Ort der Geschichte. 

 

Zur Realisierung

Wenn sich Bundesregierung, Bundestag und die Stadt Berlin diese Idee zu eigen machten, könnten diese drei etwa – nach amerikanischem Vorbild – eine beim Bundespräsidenten angesiedelte Expertenkommission anregen, die aus Vertretern der relevanten Gruppen, Einrichtungen (etwa: Gedenkstätten) und Wissenschaftsdisziplinen bestünde. Diese würde einen Arbeitsplan aufstellen, Arbeitsgruppen zur Realisierung des Vorhabens einberufen und die weitere Arbeit zur Verwirklichung des Vorhabens begleiten.

Dabei könnte auf internationale Erfahrungen ähnlicher Einrichtungen – wie des US Holocaust Memorial Museum oder Yad VeShem zurückgegriffen werden.

Auf dem für das Holocaust-Mahnmal vorgesehenen Areal ließe sich eine angemessene Form realisieren, die keineswegs monumental sein müßte.

Neben Räumen für Rahmenausstellung und biographische Wechselausstellung sollten weitere Räume zur Verfügung stehen für

An Finanzmitteln wäre ein Etat erforderlich für

Die Einrichtung könnte z.B. als eigenständige Bundesstiftung oder als kombinierte Bund-Länder-Stiftung konzipiert werden, die den Grundetat garantiert, der durch Zuwendungen Dritter ergänzt wird.

 Die Hamburger Forschungs- und Arbeitsstelle » »Erziehung nach/über Auschwitz« wäre gerne bereit, an der Konzeption und Koordination teilzunehmen.

Dafür würde sie insbesondere ihre internationalen und interdisziplinären Kontakte im Feld der »Holocaust Studies« und »Holocaust Education« mit einbringen.

Letztlich wäre auch denkbar, daß die Forschungs- und Arbeitsstelle Teil der künftigen Berliner Einrichtung würde.

 

Hamburg, den 16. Dezember 1998