Durchs Überleben bestraft...

Abschrift:

Dennoch, die Situation in der Familie wurde für Irene immer schwieriger. Frau Proskauer merkte, dass das Mädchen trotz schlechter Behandlung nichts unternahm, zu allem schwieg und auf jeden Fall in der Familie bleiben wollte. Da ergriff sie die Initiative, um Irene aus der Familie hinauszudrängen, auch weil sie sich scheiden lassen wollte. 

Es geschah folgendes: Eines Tages wurde sie von der Fürsorgerin nach der Schule abgefangen und es wurde ihr empfohlen, für einige Tage in ein Heim zu gehen, bis sich die häusliche Atmosphäre gebessert hätte. Da ihr versichert wurde, es würde ihr dort bestimmt gefallen, willigte sie ein. Daraufhin nahm die Fürsorgerin sie mit zu den Pflegeeltern: "Irene will fort von Euch; geben Sie sofort ihre Sachen heraus!" Irene war entsetzt und verzweifelt. So war es doch nicht gemeint gewesen. "Wenn du nicht freiwillig gegangen wärst, hätten wir dich gezwungen", bekam sie zur Antwort.

In dem Bericht der Fürsorgerin vom 9. Oktober 1953 heißt es:

Das entsprach nicht der Wahrheit, zumal Ingrid erst 1993 erfuhr, daß Irene von Oktober 1953 bis Oktober 1956 im Heim war (Ingrid war immer der Meinung gewesen, Irene hätte bis zu ihrem Wegzug von Harnburg noch bei Familie Proskauer gewohnt). 

Würden die Pflegeeltern ihr glauben, daß es nicht ihr Wunsch gewesen war, die Familie für immer zu verlassen? 

Das erste halbe Jahr durfte sie ihre Pflegeeltern nicht besuchen. Als sie sie dann aufsuchen konnte, erfuhr sie von beiden nur Zurückweisung. Warum sprach Herr Proskauer nicht mehr mit ihr? Er muss maßlos enttäuscht von ihr gewesen sein und ihm ist ihr angeblich "freiwilliger Entschluss, in ein Heim zu wechseln" völlig unverständlich geblieben. 

Aus diesem Grund hat er vermutlich auch nie versucht, Kontakt mit Irene aufzunehmen. 

Die wahren Zusammenhänge hat er nie erfahren. 

Nun war die oft ausgesprochene Drohung "wenn du nicht. . . , dann musst du in ein Heim" wahr geworden. 

Durch ihre Freundin Evi Schneemann erfuhr sie 1997, dass Frau Proskauer hatte verbreiten lassen, Irene habe aus Habgier gehandelt, um für sich persönlich Wiedergutmachung zu verlangen, dabei hat sie auch später nie einen derartigen Antrag gestellt, zumal ihr die eigenen Schädigungen damals noch nicht bewusst waren. Waren die Verdächtigungen der Grund, weshalb sie von allen gemieden wurde ?

Außerdem gab Frau Proskauer Irene den Rat: "Sag bloß nicht, daß du im Heim wohnst." 

Im Heim zu sein bedeutete soviel wie asozial, fast kriminell, auf jeden Fall minderwertig zu sein. 

Wenn möglich vermied sie es, über ihre Herkunft zu sprechen. 

Dazu kam, daß sie, wenn sie über ihre bisherigen Erlebnisse mit jemandem sprach, jedes Mal unkontrollierbar am ganzen Körper anfing zu zittern. 

Auch deshalb schwieg sie lieber. 

1955 traf sie ihren Pflegevater zufällig auf der Straße und er erzählte ihr, daß er seine Geige, eine Stradivari, verkauft habe. Das also war der Grund, weshalb er bei Angriffen im Krieg die Wohnung nicht verließ und alles tat, damit das Haus nicht abbrannte. Auch im Nachbarhaus lief er treppauf, treppab, riss brennende Gardinen ab und löschte Brände, die durch Funkenflug leicht entstehen konnten. 

Damit, daß er sich von seiner Geige trennte, begrub er endgültig seine künstlerischen Hoffnungen. 

Ein trauriges Kapitel. Durch die Naziherrschaft konnte er seine Begabungen und Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen. 

Er hatte zu großen Hoffnungen Anlass gegeben. Die Pflegemutter sprach manchmal davon. Er musste sich nun all die Jahre mit Unterhaltungsmusik begnügen. Dass sein Herz litt, er herzkrank wurde, ist nicht verwunderlich.

 

Sie lebte nicht mehr gern. Das Dasein war ihr verleidet. Die Trauer und Todessehnsucht, die sie empfand, spürte sie auch in der Musik Bachs und entdeckte später die Erklärung dafür in seiner Biographie : 

Tatsächlich stand Irene nun völlig allein da. 

Die Pflegeeltern lehnten sie ab und ignorierten sie. 

Ihre nächsten Verwandten nahmen von ihr keine Notiz. 

Ihre Bekannten, die überlebt hatten, hatten Deutschland nach und nach verlassen. 

Den einzigen Besuch in den drei Jahren des Heimaufenthaltes erhielt sie von Rudolf Landmesser. Er sollte sie zu seinen Eltern nach Blankenese bringen. Später lud er sie auch ein zur Abschlussfeier seiner Pädagogischen Hochschule in Lüneburg. Wie er, wollte auch Irene über den zweiten Bildungsweg studieren. Sie wählte als Lehrberuf den Buchhandel.

Nach Abschluss der Mittleren Reife im Frühjahr 1955 vermittelte ihr die Heimleiterin eine Lehrstelle im Friedrich Wittig Verlag, zu denn Autoren unter anderem Albrecht Goes gehörte (er schrieb Gedichte und Bücher wie "Unruhige Nacht" und "Das Brandopfer").

Als die Lektorin des Verlages, Brigitte Pflug, nach München zog, sorgte sie dafür, daß Irene im Laetare-Verlag in Nürnberg ab 1. Oktober 1956 ihre Lehre fortsetzen und auf diese Weise das Heim und Harnburg verlassen konnte. 

Am 11. Mai 1958 legte sie die Buchhandelsgehilfenprüfung in München ab. 

Am 5. August 1958 endete auch die Vormundschaft. Den langgehegten Wunsch, Lehrerin zu werden, konnte sie als 36jährige noch über den zweiten Bildungsweg verwirklichen, musste aber, wegen Spätfolgen der Misshandlungen, nach zwanzig Jahren vorzeitig aus dem Schuldienst ausscheiden.

Das, was Irene in ihrer Zulassungsarbeit für die Verlagsbuchhändler-Prüfung an Zitaten auswählte und über den Autor Thomas Wolfe schrieb, spiegeIte deutlich die Gemütsverfassung der Zwanzigjährigen wider: