Irene Eckler im Waisenhaus

Was geschah mit Irene in dem Kinderheim (Waisenhaus) nach der Deportation ihrer Mutter im Juli 1938? Eigene Erinnerungen an die Zeit hat sie keine.

Körperliche und seelische Folgen, die auf Misshandlungen hindeuten, lassen ahnen, was vorgefallen ist. 

So hat sie viele Narben am Körper, die zum Teil bis zu drei Zentimeter lang sind. Der Hautarzt hat festgestellt : Im Nacken im Bereich der Medianlinie, am Hinterkopf, am Rücken im Brustwirbel-, sowie im Lendenwirbelsäulenbereich, sehr ausgeprägt an den Oberarmen, geringer am rechten Oberschenkel, finden sich etwa dreißig länglich angeordnete, teils abgeblasste und eingesunkene, teils leicht hypertrophe Narben. 

Die Narben wirken am ehesten wie Folgen von Schnittverletzungen. 

Äußerlich erkennbar sind, außer den Narben, Veränderungen an der rechten Schulter und am rechten Schlüsselbein sowie am Hinterkopf, die auch aus dieser Zeit stammen und auf Verletzungen durch einen Sturz hinweisen.

Auch erlebte sie Halluzinationen (Wahnvorstellungen), Schlafwandeln, Gefühl plötzlich ins Bodenlose zu fallen usw. 

Nach der Geburt ihres eigenen Kindes hatte sie seltsame Erlebnisse. 

Sie stand zum Beispiel nachts auf, ohne es zu merken, suchte ihr Kind am Fußende ihres Bettes, geriet in Panik, weil sie es nicht fand. Ihr Mann sprach sie an und zeigte ihr, daß das Kind ruhig in seinem Bett lag und schlief. 

Oder sie stand auf, ging ans offene Fenster, wähnte das Kind auf dem Arm; es rutschte ihr aus der Hand, fiel aus dem Fenster - sie wohnten im dritten Stockwerk - und sie wartete auf den Aufprall und schrie fürchterlich, bis sie angesprochen wurde. 

Schon immer und auch heute noch hat sie nachts eigenartige Zustände. 

Sie setzt sich auf und starrt verstört um sich oder springt aus dem Bett, rennt ans Fenster und schreit. 

Wenn sie angesprochen wird, wird es ihr auch bewusst, doch meistens kann sie sich an nichts erinnern. 

Alle Verletzungen körperlicher und seelischer Art resultieren aus der Zeit des Heimaufenthaltes (Juli 1938 bis März 1939) als Einjährige und lassen einen Sturz durch das Fenster vermuten (die Narben verlaufen an den Armen längsseits, die großen und tiefen Narben am Rücken jedoch in unterschiedlichen Richtungen). 

Da ein jüdisches Kind einer "Rassenschänderin" als minderwertig und lebensunwürdig galt, muss der folgenschwere Sturz auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Geschah der Fenstersturz in der Zeit des Novemberpogroms? ("Reichskristallnacht" 9.-11. November 1938). 

Bis Mai 1940 lag die Vormundschaft für beide Kinder beim Jugendamt Hamburg. Akten sind jedoch keine mehr vorhanden. Selbst in der Vormundschaftsakte des Amtsgerichts fehlen die (durchnummerierten) Seiten 6-13. 

Eine Pflichtversicherung für Kinder im Heim bestand damals noch nicht. 

Außerdem ist das Kinderheim Averhoffstraße im Krieg durch Brand zerstört worden. 

Darum sind keine schriftlichen Unterlagen vorhanden, so daß es unmöglich ist, die Vorkommnisse restlos aufzuklären.

Am 31.3.1939 wurde ein Ausweis mit dem "J" (Jude) für das Kind ausgestellt. 

Zusammen mit der Fotografie weist dieser Ausweis auf den Wechsel vom Heim zu den ersten Pflegeeltern hin. 

Warum wurde das Kind in private Pflege gegeben? 

Konnte man auf diese Weise die Folgen des Sturzes besser verheimlichen? 

Die Großmutter erfuhr von den Vorgängen nichts. 

Auch Irenes Schwester, Ingrid, sah die Vernarbungen 1994 zum ersten Mal. 

Nun, bei den Pflegeeltern Krause, konnte die Großmutter ihr Enkelkind endlich besuchen. 

Ingrid hörte in einem Gespräch, die Oma meinte, dem Kind ginge es dort nicht gut. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch käme, würde Irene sich ängstlich unter dem Bett verkriechen. Doch sie irrte sich; Irene hat dort wieder gelernt zu vertrauen, konnte ihr Verhalten ändern und sich später zu einem frohen, unternehmungslustigen Kind entwickeln. 

Die Pflegemutter, zusammen mit ihrer etwa 13-jährigen Tochter, verstanden es, ihr Geborgenheit zu vermitteln. 

Nur wenn Herr Krause, trotz seiner Kriegsverletzung ein lebenslustiger Mann, der es immer gut mit ihr meinte, jeden Mittag extra einen Stuhl für sie an den Tisch holte und dabei den Schlager sang: "Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da, Stuhl da, für meine Hulda, Hulda, Hulda", wurde sie traurig. 

Sie wusste, ohne dass es ihr jemand ausdrücklich gesagt hätte, für sie war "kein Stuhl da", denn eigentlich... 

...eigentlich gehörte sie nicht dazu.

 

Und es gab weiterhin Menschen, die sich für Irene einsetzten...