Der Vormund, Landgerichtsrat a.D. Dr. Gerson, versucht Irene zu retten...

Bisher hatte die Vormundschaft für beide Kinder beim Jugendamt Harnburg gelegen. Ingrid galt den "Nürnberger Gesetzen" zufolge als "Mischling 1. Grades", Irene, da nach dem 31. Juli 1936 geboren, als "Volljüdin". 

In der ersten Verordnung zum "Reichsbürgergesetz", das zu den "Nürnberger Gesetzen" gehörte, vom 14. November 1935 heißt es:

Paragraph 5, Absatz 2 d traf auf Irene zu. Deshalb war ein Vormund zu suchen, der die Kriterien des folgenden Runderlasses über die "Berücksichtigung der Grundsätze der Rassengesetzgebung bei Bestellung von Einzelpersonen zu Vormündern, Pflegern" vom 17. Oktober 1938 erfüllte: 

Im Mai 1940 wurde der jüdische Landgerichtsrat a. D. Dr. Gerson vorgeschlagen. 

Er übernahm die Vormundschaft für beide Kinder und nahm sich des komplizierten Falles der rassischen Einordnung an. 

Er wollte erreichen, daß auch das Kind Irene als "Mischling" anerkannt würde, um es so vor Verfolgung besser schützen zu können. 

"Mischlinge" und auch Juden, die in "Mischehe" lebten, wurden bis 1944 meist nicht deportiert

Landgerichtsrat a. D. Dr. Hermann Israel Gerson war schon 1933 aus dem Dienst entlassen worden, denn das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 verlangte : 

Die Bezeichnung "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" war eine Irreführung. Es ging vielmehr darum, politisch und rassisch nicht erwünschte Beamte auszuschalten. 

Die Verordnung vom 17. August 1938 sollte die Verfolgung und Entrechtung der Juden erleichtern : 

Deshalb musste sich Dr. Hermann Gerson nun auch Israel nennen.

 

In seinem Schreiben vom 25. Juni 1940 an das Amtsgericht versuchte Dr. Gerson die rassische Zugehörigkeit der Familienmitglieder zu klären.  

Der Großvater Arthur Eckler war zwar im Februar 1939 formell aus dem Jüdischen Religionsverband ausgetreten, aber gemäß der ersten Verordnung zum "Reichsbürgergesetz" vom 14. November 1935 galt er trotzdem als Jude: 

Für seine Bemühungen, daß Irene zum "Mischling" erklärt würde, wäre es von Vorteil gewesen, wenn der Vater August Landmesser die Vaterschaft an dem Kind Irene in öffentlicher Urkunde anerkannt und Unterhalt gezahlt hätte. Das erklärt seine Ausführungen. 

Auch sein Vorschlag, der Mutter solle das Sorgerecht entzogen werden, geschah in der gleichen Absicht. 

"In diesem Fall dürfte es sich empfehlen, das Recht der Sorge für die Person der Kinder entweder mir oder den Pflegeeltern der Kinder zu übertragen", schrieb er in seinem Brief.    

Aber die Mutter im KZ verstand die Gründe nicht. Sie fürchtete, die Kinder ganz zu verlieren, wie aus ihren Briefen deutlich wurde [Zu den Briefen].  Deutlich schreiben konnte man jedoch nicht, sonst wäre der Brief nicht durch die Zensur gegangen.

Während Ingrid gleich nach der Geburt getauft wurde, blieb Irene zunächst ungetauft. 

Erst ihr Vormund Dr. Gerson hat dafür gesorgt: 

"Die Taufe der Irene, die bisher unterblieben war, ist inzwischen nachgeholt. Sie hat am 1. September (1940) durch Herrn Pastor Dr. Uhsadel in Harnburg 24, Immenhof 4, stattgefunden."   

Weitere Hilfeleistungen seitens der evangelischen Kirche waren damit nicht verbunden. 

Am 19. Januar 1941 wurde der Vater August Landmesser aus der Strafhaft nach Harnburg entlassen.  

Am 30. Januar 1941 erschien folgender "Runderlass des Reichsministeriums der Finanzen": 

Am 8. März 1941 teilte Dr. Gerson dem Amtsgericht mit, dass 

  1. die Sozialverwaltung seit dem 1. Februar 1941 die Unterstützung für Irene abgelehnt hat, da das Kind als Jüdin gilt 
  2.  der Jüd[ische]. Religionsverband Harnburg jetzt die Unterstützung zahlt.  

Die Zeit drängte, denn jeder weitere Monat brachte Verschlechterungen für die Situation der Juden. Endlich, am 31. März 1941, erkannte August Landmesser die Vaterschaft an dem Kind Irene an.  

Auf dieses Anerkenntnis gestützt, wollte Dr. Gerson versuchen zu erreichen, dass Irene als "Mischling" anerkannt würde, vor allem auch deshalb, weil die Pflegeeltern sie sonst nicht mehr behalten könnten.  [Quelle] (A 35)

Am 5. Mai 1941 wandte sich Dr. Gerson mit einem Schreiben von vier Seiten mit 20 Anlagen an den Reichsminister des Innern - Abteilung Reichsstelle für Sippenforschung - Berlin. 

Er bekam von dort den Bescheid, daß die Einordnung zu Recht erfolgt sei. 

Daraufhin nutzte er noch die letzte Möglichkeit bezugnehmend auf § 7 der "Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935", wo es hieß: 

und richtete am 3. Juni 1941 ein "Gnadengesuch" an den "Führer und Reichskanzler": 

Welch ein Mut spricht aus diesen Zeilen!

Zu den weiteren Bemühungen Gersons