Tagungsberichte


  


NS-Prozesse und politische Kultur in der Bundesrepublik der 60er Jahre«, Evangelische Akademie Mühlheim/Ruhr (26./27.11. 2000)

 

Die Tagung reflektierte die Wechselbeziehungen zwischen NS-Prozessen und politischer Kultur in der frühen Bundesrepublik. Sie wurde veranstaltet von der 1961 gegründeten Humanistischen Union (HU). Als Zusammenschluss kritischer Intellektueller vertritt die HU den Anspruch radikaldemokratische und emanzipatorische Inhalte in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen, so Dr. Norbert Riechling, einer der Organisatoren.

Ungefähr 20 Historikerinnen und 20 Historiker - ein Zahlenverhältnis, das deutlich im Gegensatz zu sieben ausschließlich männlichen Referenten stand - hatten teilgenommen und genossen das großzügige Ambiente der Evangelischen Akademie Mühlheim/Ruhr.

 

Das Einleitungsreferat hielt Prof. Bernd Faulenbach aus Bochum. Sein Anliegen war es, den partiellen Wandel in verschiedenen Bereichen beim 

Übergang von den 50er zu den 60er Jahren vorzustellen.

Im Vergleich zu den 50er Jahren interpretiert er die 60er Jahre als Zeit des Aufbruchs und der Modernisierung. Reformen und zunehmende Demokratisierung seien Ausdruck und Ursache eines „leicht linken“ Zeitgeists gewesen, der sich von Orientierungen des kalten Krieges lösen konnte. So sei der Antikommunismus der 50er Jahre mehr und mehr durch erkenntnisgeleitete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus abgelöst worden.

Der generationelle Wandel habe zudem dazu geführt, dass die bundesrepublikanischen Eliten der 50er Jahre, die in großer Anzahl bereits im öffentlichen Leben der Weimarer Republik gestanden hatten, zunehmend von Jüngeren abgelöst wurden, die, wie Faulenbach meint, in ihrem Wirken nicht selten ihre Kinder- und Jugendzeit im NS kritisch verarbeitet hätten. Die 68er waren dann die erste Generation, die über keine eigenen Erinnerungen mehr an die NS-Zeit verfügte. Zwar seien sie nur eine kleine Minderheit innerhalb der Wohlstandsgeneration gewesen, aber sie übten radikale Kritik. Und sie waren die ersten, die lange Kontinuitätslinien von der Kaiserzeit zur Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis zur Ära Adenauer zogen, von der sie sich explizit und vehement absetzten. Es waren dann auch die 68er, die die Gesellschaft mit den deutschen Verbrechen konfrontierten. Ein wichtiger Beitrag zu dieser Konfrontation waren die NS-Prozesse.

Der Wandel beeinflusste auch die Geschichtswissenschaft. Strukturen und Prozesse im NS wurden  besser bestimmt, jedoch tendenziell unter Vernachlässigung von Mentalitäten oder Biographien - gerade in bezug auf Täter im Rahmen des Judengenozids (Faulenbach).

Charakteristisch für die 60er Jahre war das Nebeneinander von Progressivität, Konservatismus und Reaktion (Gründung und Erfolge der NPD). Faulenbachs Ausführungen münden in die These einer „Fundamentalpolitisierung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Werteverschiebungen zu Freiheit und Demokratie wurden ermöglicht und machten die breite Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den 60ern unumgänglich. Die wichtigste Ebene sei dabei die strafrechtliche gewesen, weil die Verbrechen, insbesondere der Holocaust, ins Zentrum gezogen worden seien.

 

Im Anschluss resümierte Prof. Wolfgang Scheffler, (Berlin), seine Tätigkeit als Gutachter bei NS-Prozessen.

Ausgehend vom Wegdrängen und Verschweigen der nationalsozialistischen Zeit in den 40er und 50er Jahren, betonte auch Scheffler die große Bedeutung der NS-Prozesse für die Selbstaufklärung der Gesellschaft, nicht zuletzt durch eigens für die Prozesse erstellte wissenschaftlichen Gutachten. Die Gutachtertätigkeit erfordert, so Scheffler, ein hohes Maß an persönlicher und fachlicher Unabhängigkeit. Scheffler berichtete darüber, wie ihm die Arbeit immer wieder erschwert wurde, nicht zuletzt von der Freien Universität Berlin. Ernst Freankel habe beispielsweise persönlich verhindert, dass Scheffler am Auschwitz-Prozess mitwirken konnte. Über genauere Umstände schwieg sich Scheffler dabei allerdings aus. Viele Gerichte verzichteten auf Gutachten, andere versuchten Schefflers Person zu diskreditieren oder seine Glaubhaftigkeit anzuzweifeln, indem sie nach jüdischen Angehörigen suchten.  Hinzu kamen technische Probleme: die Aktenbestände waren in den Archiven verstreut, noch nicht ins Deutsche übersetzt oder schlecht organisiert verwaltet .

Wichtige Themen betrafen juristische Fragen wie z.B. den „Befehlsnotstand“ oder Opferzahlen, aber auch historische Problemstellungen, so z.B. die komplexen Personalstrukturen im SS- und Polizeiapparat.

Nach Schefflers Auffassung sei aus den zahlreichen Prozessen gegen NS-Straftäter viel zu wenig Information an eine breitere Öffentlichkeit gelangt. Eine Teilschuld daran hätten sicherlich auch die Historikerinnen und Historiker, denn nicht selten wurden einmalige Gelegenheiten für wissenschaftliche Arbeit versäumt. Charakteristisch waren die Getto-Verfahren in den 50er und 60er Jahren, die vor leeren Bänken stattfanden und von den Medien kaum beachtet wurden. Nicht selten waren alle Überlebenden angereist, die der Forschung als Zeuginnen und Zeugen zur Verfügung hätten stehen können. Gleiches gilt auch für eine große Anzahl potentieller Verdächtiger.

Zwar zeigt sich Scheffler aufgrund dieser Versäumnisse nicht resigniert, jedoch beendete er seine Ausführungen mit einem vielsagenden Fazit: „Das Eis auf dem wir wandeln, kann sehr dünn sein.“

 

Marc von Miquel (Bochum) referierte über die Verjährung von NS-Straftaten. In den DDR-Kampagnen gegen die „Blutrichter“ ab 1957 sieht er eine wesentliche Grundlage für den Wandel im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen. Zu den mittelbaren Folgen dieser Kampagnen rechnet er auch die Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zu Verfolgung von Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“ in Ludwigsburg.  Im Zuge der drohenden Verjährungen für bestimmte Tötungsdelikte am 8. Mai 1960, wurde auf einer Justizministerkonferenz in Bad Harzburg die Gründung der Zentralstelle beschlossen. Miquel, der die Protokolle der Justizministerkonferenz durchgearbeitet hat, sieht darin den Versuch der Selbstlegitimation der Bundesrepublik. So blieb der Aufgabenbereich stark eingeschränkt. In Ludwigsburg dürfen ausschließlich Vorermittlungen durchgeführt werden, die Zuständigkeit beschränkt sich auf Verbrechen, die nicht auf dem heutigen Gebiet der Bundesrepublik begangen wurden und nimmt Wehrmachtsverbrechen aus.

Der Deutsche Bundestag hatte im März 1965 über die Verjährungsfristen von Tötungsverbrechen zu beschließen. Trotz starker Kräfte, die sich gegen eine Verlängerung aussprachen, wurde die Frist bis zum 8. Mai 1969 verlängert. Entscheidend, so von Miquel, sei dabei ein US-Veto gewesen. In welcher Form dieses Veto allerdings formuliert war und wie es vorgetragen wurde ließ er allerdings offen. Die Anlehnung an amerikanische Normen sieht von Miquel als Schritt zur „Verwestlichung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die die Entfernung von der „Volksgemeinschaft“ sukzessiv ermöglicht habe. Insbesondere diese These bot im Anschluss Anlass zur Diskussion, denn es stellte sich die Frage, inwieweit die Westorientierung der Bundesrepublik erzwungen wurde.

Trotz merklicher Rückschläge, so z.B. das Niederschlagen des geplanten Verfahrens gegen ehemalige Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes, durch die Novellierung von § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuches, beurteilt von Miquel die 60er Jahre als Phase des neuen Umgangs mit dem Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Die „Vergangenheitspolitik“ (Frei) sei abgelöst, über Auschwitz sei von da an gesprochen und geschrieben worden.

Ebenso wie Faulenbach sieht von Miquel die 60er Jahre als Zeitraum, in dem sich verstärkt politische Lager bildeten. Die NS-Vergangenheit sei in der Auseinandersetzung zwischen den Lagern mittels eines konfrontativen Prozesses thematisiert worden.

 

Miquels These des „konfrontativen Prozesses“ wird auch von Dr. phil. habil. Dieter Gosewinkel (Berlin) gestützt. Gosewinkel beschreibt die Entwicklung des sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten und Juristen Adolf Arndt vom Gegner zum Befürworter der Verlängerung von Verjährungsfristen für nationalsozialistische Tötungsverbrechen. Ausgangspunkt war Arndts Kritik an einer Ausstellung mit dem Titel „Ungesühnte Nazi-Justiz“, die der SDS 1959 in Karlsruhe organisiert hatte. Sie beschäftigte sich mit Richtern und Staatsanwälten, die in der NS-Zeit an Todesurteilen mitgewirkt hatten und in der Bundesrepublik noch im Dienst waren.

Obwohl Arndt im Nationalsozialismus verfolgt worden war, seien seine Schuldvorwürfe gegen NS-Richter insgesamt relativ milde gewesen. Zwar sei er an Lehren aus der Vergangenheit interessiert gewesen, an der Vergangenheit an sich aber nicht. So habe er beispielsweise im Jahre 1950 die Kontinuität im Justizwesen lediglich für ein Randproblem gehalten und 1954 sein Unbehagen über laufende NS-Prozesse geäußert. Noch 1960 bezog er Stellung gegen einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, der die Verjährung von Totschlag verhindern sollte.

Die Ausstellung „Ungesühnte Nazi-Justiz“ erlebte im Kontext einer DDR-Kampagne zur Delegitimierung der Bundesrepublik eine sukzessive Karriere.

Da sie nur wenige Tage nach der Verabschiedung des Godesberger Programms eröffnet wurde, und ihre direkte, appellative Aussage den moderaten sozialdemokratischen Kurs störte, nahm Adolf Arndt sich der Sache an und leitete das Material an den Rechtsausschuss des Bundestages, mit dem Ziel die Diskussion in parlamentarische Bahnen zu lenken. Die überwältigenden Einsichten, die das Material über die deutsche Justiz zwischen 1933 und 1945 ermöglichte sowie auch Appelle Fritz Bauers vor der SPD-Fraktion, hatten Arndt letztendlich dazu bewegt, seine Position in der Verjährungsfrage zu revidieren. Kurzfristig zeichnete sich im Rechtsausschuss sogar eine Mehrheit für die Zwangspensionierung belasteter Richter und Staatsanwälte ab. Insbesondere der anfängliche „Zauderer“ Adolf Arndt sei zu einem entschiedenen Vorstreiter für die Zwangspensionierung geworden. Das Ansinnen fand aber keine Mehrheit.

Im folgenden standen die Richter nicht länger im Zentrum der Debatte, sondern die „einfachen Mörder“. Die Stimmen in der SPD-Fraktion, die eine Grundgesetzänderung bzgl. der Verjährung von Mord und Völkermord forderten, waren im Bundestag aber nicht konsensfähig. So erfolgte zunächst nur die Verlängerung der Verjährungsfristen um vier Jahre wegen des Verfolgungsstillstandes von 1945 bis 1949.

Nach Gosewinkel zeige das Beispiel Adolf Arndt, wie ein externalisiertes Feindbild, die DDR, allmählich durch ein internes Feindbild, die Naziverbrecher, abgelöst wurde, was wiederum als Ausdruck einer anderen politischen Kultur als noch in den 50er Jahren gewertet werden kann. Thomas Henne relativierte in der Diskussion Gosewinkels klare Unterscheidung. Schon in den 50er Jahren seien Ansätze einer neuen Form der justiziellen Aufarbeitung des Nationalsozialismus erkennbar gewesen, so z.B. die Verfahren gegen den NS-Regisseur Veit Harlan und gegen dessen Kritiker Lüth.

 

Paul Ciupke (Essen) bezog sich in einem Kurzreferat auf den Beitrag von Erwachsenenbildung und Ausstellungen zur Bewältigung des Nationalsozialismus durch Selbstaufklärung der Gesellschaft. Trotz interessanter Quellen, wie z.B. Seminarankündigungen, ist der Themenkomplex  Erwachsenenbildung ein Desiderat.

Auch hier vollzogen sich in den späten 50er und frühen 60er Jahren umfassende Veränderungen, sicherlich auch ausgelöst durch die Hakenkreuzschmierereien in Köln und Düsseldorf um die Jahreswende 1959/60. Doch schon für die Jahre davor können merkliche Veränderungen festgestellt werden. Das Bedürfnis nach sachlicher Aufklärung stieg und neue Methoden etablierten sich. Es wurde möglich auf neu erstellte Quelleneditionen und auf verbesserte staatliche Finanzierung zurück zu greifen.

Seit Ende der 50er Jahre fanden vermehrt Ausstellungen zum Thema Nationalsozialismus statt. Sehr wichtig war die Fotoausstellung zum Thema „Auschwitz“ in der Frankfurter Paulskirche mit ca. 61.000 Besucherinnen und Besuchern, die parallel zum ebenfalls in Frankfurt stattfindenden Auschwitz-Prozess gezeigt wurde.

 

Bernhard Brunner, in Freiburg Mitarbeiter von Ulrich Herbert, berichtete über seine derzeitige Arbeit zum juristischen Umgang in der Bundesrepublik mit den Angehörigen der Sicherheitspolizei in Frankreich. Die ehemaligen Sipo-Leute hatten die Judendeportationen (ungefähr 74.000)  und die Erschießung von ca. 29.000 Geiseln zu verantworten. Im Jahre 1979 wurde in der Bundesrepublik das Gerichtsverfahren gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn, ehemalige Angehörige der Sipo in Frankreich, durchgeführt. In den Medien wurden die Prozesse und die Verurteilungen überwiegend wohlwollend besprochen. Brunner hingegen relativierte diese Bewertungen, indem er die drei Fälle auf die insgesamt 199 Angehörigen von Sipo und SD im Besatzungsregime in Frankreich bezieht.

Die Sipo- und SD-Leute, die in Frankreich gewirkt hatten, hätten nach 1945 gebrochene Karrieren erlebt. Meistens seien sie bis Anfang/Mitte der 60er Jahre im Öffentlichen Dienst tätig gewesen, in der Regel als Juristen. Danach wechselten viele, als doch einige Fakten aus der NS-Zeit ans Tageslicht gelangten, in die Privatwirtschaft. Das zeigt, dass sich die Einstellung der Öffentlichkeit offenbar dahingehend veränderte, dass Belastete oder Verdächtige in öffentlichen Ämtern als nicht mehr gut tragbar galten.

Brunner stellte im folgenden das Beispiel Kurt Lischka vor:

Kurt Lischka, Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Paris, wurde unter falschen Namen in Frankreich verhaftet und zunächst an die Tschechoslowakei ausgeliefert. In einem Spruchkammerverfahren der Staatsanwaltschaft Bielefeld kam es zu einem Freispruch. In Frankreich wurde er kurz darauf in Abwesenheit zum Tode und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die französischen Behörden hätten zwar von Lischkas Aussage in Bielefeld gewusst, seinen Aufenthaltsort aber nicht gekannt.

Lischka arbeitete als Prokurist in Köln. Flugblätter aus Ostberlin griffen ihn aber ebenso an wie Opferverbände aus Israel, französische Behörden und Intellektuelle. Auch einige deutsche Juristen bewerteten den Fall mittlerweile anders.

Viele der juristisch ausgebildeten Täter aus dem Bereich Sipo und SD hatten, so Brunner, die Möglichkeit an die Weimarer Zeit anzuknüpfen. Der typische Werdegang dieser Gruppe von Tätern habe zunächst in den 50er und z.T. auch noch in den 60er Jahren eine erfolgreiche Integration zugelassen. Erst ab Mitte der 60er Jahre wurde die direkte Unterstützung aufgegeben worden. Insgesamt habe die „Rückkehr zur Bürgerlichkeit“ (Herbert) keine Ausgrenzung und Ächtung der Täter nach sich gezogen, sondern deren Integration in die Nachkriegsgesellschaft ermöglicht.

 

Die auf der Tagung erörterten Themen setzten den aktuellen Trend der Zeitgeschichtsforschung fort, der Mitte der 90er Jahre, nach der Beendigung der deutschen Zweistaatlichkeit, begonnen hatte. Norbert Frei und Ulrich Herbert waren es, die sich als erste mit der Frage der Integration von NS-Straftätern in die bundesrepublikanische Gesellschaft beschäftigt hatten. Deren Mitarbeiter von Miquel und Brunner, aber auch Gosewinkel, machten deutlich, dass gerade im Bereich des bundesdeutschen Justizwesens noch eklatante Wissensdefizite aufgearbeitet werden müssen. Micheal Okroy ging in einer zusammenfassenden Bemerkung  noch weiter und stellte die Frage nach den Ursachen dieser Defizite. Welche Akteure hatten ein Interesse Zusammenhänge zu verschleiern?

Auch der Themenkomplex DDR-Geschichte müsste wohl in Zukunft stärker berücksichtigt werden, denn möglicherweise gibt es in Bezug auf die Frage nach der Aufarbeitung des Nationalsozialismus mehr Wechselbeziehungen als bisher ersichtlich. Ebenso muss nach Parallelen und Unterschieden der strafrechtlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten gesucht werden.

Eine weiterer unbearbeiteter Themenkomplex dürfte auch die vereitelte Strafverfolgung in anderen westeuropäischen Ländern sein, die sicherlich zum größten Teil auf Bündnisinteressen zurückzuführen ist. So verurteilte vor wenigen Tagen beispielsweise ein Gericht in Verona den 76-jährigen ehemaligen SS-Mann Michael Seiffert in Abwesenheit zu lebenslanger Haft, nachdem das belastende Material mehr als 40 Jahre lang unterdrückt worden war. [Karsten Wilke, Bielefeld


»Kinder und das ‚Dritte Reich‘ – muss das sein?«, Kreisjugendring Nürnberg-Stadt (9.12.2000)

Die Veranstaltung ist Teil des Engagements des Kreisjugendringes Nürnberg-Stadt  in der Ausgestaltung des pädagogischen Programms „rund um das Dokumentationszentrum“ Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das im kommenden November eröffnet werden wird. Der KJR hat hierzu im Auftrag des Nürnberger Jugendhilfeausschusses eine eigene Konzeption entwickelt und seit April diesen Jahres eine Projektstelle eingerichtet.

Mit dieser Tagung widmete sich der Kreisjugendring Nürnberg-Stadt bereits zum dritten Mal der übergeordneten Thematik „Pädagogik wider das Vergessen“, inzwischen in Nürnberg eine etablierte Veranstaltungsreihe, die sich immer größeren Interesses erfreut. Das Interesse an dieser Tagung  - zu der ca. 100 TeilnehmerInnen erwartet wurden - zeigt aber auch die Aktualität des Themas und die brennende Frage: wie können wir bereits mit Kindern arbeiten um dazu beizutragen, dass „Auschwitz nie wieder sei“? Diese Frage stand im Mittelpunkt der eintägigen Veranstaltung, auf der nicht nur die anwesenden ReferentInnen mögliche pädagogische Ansätze vorstellten, sondern auch die TeilnehmerInnen in verschiedenen Arbeitsgruppen über konkrete Möglichkeiten für Nürnberg diskutierten.

Die Ausgangsfrage lautete: Kinder und Nationalsozialismus - muss das wirklich sein? Wie hat man sich das vorzustellen, macht der Kindergarten demnächst einen Ausflug aufs Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder drängen sich GrundschülerInnen unvorbereitet künftig in der Ausstellung im Dokumentationszentrum? Klar ist: so kann eine sinnvolle pädagogische Arbeit nicht aussehen. Kinder brauchen einen anderen Zugang, spezielle Methoden. Aber wir denken auch: Kinder wissen bereits etwas über das „Dritte Reich“. Dieses Wissen mag zufällig, zusammenhanglos sein, aber sie haben doch eine Vorstellung. Damit sich diese unverarbeiteten Teilinformationen nicht zu Vorurteilen verfestigen, sollte das Thema „Drittes Reich“ frühzeitig behandelt werden, nicht erst in der 9. oder 10.Klasse wie in den bayerischen Lehrplänen vorgesehen.

So stellten wir fest: Die Frage heißt nicht: soll es Arbeit mit Kindern überhaupt geben, sondern: wie kann sie aussehen, welche Möglichkeiten gibt es, wie kann das Thema kindgerecht vermittelt werden. Vermieden werden muß eine Instrumentalisierung der Kinder in diesem Zusammenhang, Kindern darf andererseits aber auch nicht mit Verschweigen begegnet werden, wenn die Situation nach einer Erklärung verlangt.

Die Fachtagung sollte erste Anregungen geben, wie wir in Nürnberg hier weiter mit dem Thema „Kinder und das ‘Dritte Reich’ umgehen werden. Die Veranstaltung sollte sich den Möglichkeiten, Chancen aber auch Grenzen pädagogischer Arbeit mit Kindern zum Thema Nationalsozialismus / Holocaust widmen. Dazu referierten zunächst

Um aber nicht nur über Kinder zu reden, sondern sie auch selbst zu Wort kommen lassen, wurde ein Interviewprojekt aus Ludwigsburg von Bernd Mugrauer vorgestellt, das sich der Frage widmete: Was wissen Kinder über das „Dritte Reich“? Im Anschluss daran berichtete Heinke Keblawi vom Nürnberger Aktivspielplatz von einer Befragung Nürnberger Kinder zum gleichen Thema. Das Spektrum der Antworten reichte dabei von „Wer ist Hitler? Habe ich noch nie gehört!“ (Letitzia, 13 Jahre, Hauptschülerin) – also schierer Unkenntnis – bis zu teilweise genauem Wissen. So weiß Sofia (11 Jahre): „Hitler hat den Zweiten Weltkrieg gemacht. Er hat gesagt, die richtige Rasse der Menschen ist blauäugig mit blonden Haaren und er wollte über die ganze Welt herrschen. Viele Juden wurden von den Deutschen getötet. Beinahe wäre auch meine Oma dabeigewesen. Ich bin Vierteljüdin. Von meiner Oma weiß ich das alles.“ Gerade das war bei der Befragung augenfällig: gerade „betroffene“ Kinder sind durch ihre Familie besser informiert als andere.

In Arbeitsgruppen wurde über die Möglichkeiten und Perspektiven der „Erziehung nach Auschwitz“ in Kindertagesstätten, in der Grundschule sowie in der Jugendverbands- und der offenen Kinder- und Jugendarbeit diskutiert.

Das Fazit der Fachtagung:

Die Referate und Ergebnisse der Fachtagung werden in einer Dokumentation schriftlich festgehalten. Die Dokumentation ist seit Juni 2001 beim Kreisjugendring Nürnberg-Stadt erhältlich.

In der Schriftenreihe des Kreisjugendringes Nürnberg-Stadt liegen bislang vor:

Die Dokumentationen sind gegen eine Schutzgebühr von 5, - DM erhältlich. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: Kreisjugendring Nürnberg-Stadt, Hintere Insel Schütt 20, 90403 Nürnberg, Tel. 0911 / 2450-1/2,  Fax 0911 / 244 92 35 [Anja Proelß-Kammerer, Nürnberg]


»Vernichtungspolitik in Ostpolen«,  Gedenkstätte Breitenau, Guxhagen bei Kassel (10. Februar 2001)

Das Tagesseminar wurde von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des „Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V.", Kassel, ausgerichtet. Das Bildungswerk organisiert seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen Studienfahrten zu den Orten des Holocaust. Das Seminar richtete sich vor allem an Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer 10-tägigen Studienreise nach Ostpolen im Juni 2000. Besichtigt wurden die ehemaligen Vernichtungslager der „Aktion Reinhard" und andere Orte der nationalsozialistischen Okkupations- und Vernichtungspolitik im „Generalgouvernement". Die wissenschaftliche Leitung hatte damals der in Lublin lebende britische Belzec-Experte Michael Tregenza, der auch in Breitenau zu den etwa 30 Zuhörerinnen und Zuhörern gehörte.

Peter Hübner vom „Bildungswerk Stanislaw Hantz" begrüßte die Anwesenden und stellte das Tagesprogramm sowie den Referenten vor. Dr. Dieter Pohl, derzeit beim Institut für Zeitgeschichte in München beschäftigt, führte am Vormittag in die „Genesis der Endlösung" ein. Für den Nachmittag war dann eine zusammenfassende Darstellung seiner Dissertationsarbeit über die Zivilverwaltung im Distrikt Gallizien vorgesehen.

Die „Genesis der Endlösung" im Generalgouvernement

Am 19. 8. 1942 fuhr je ein Deportationszug nach Belzec und Treblinka, während am selben Tag Angehörige des Polizeibataillons 101 die jüdischen Menschen der Ortschaft Lamazy erschossen. Ungefähr 25.000 Jüdinnen und Juden fanden an diesem Tag den Tod. In der Zeit von Ende Juli bis Mitte September 1942 fanden die schlimmsten Massenmorde der „Endlösung" statt. Der Holocaust, so Dieter Pohl, sei also ein „amorphes" Phänomen.

Ansiedlungspläne

In der ersten Phase nach dem Sieg über Polen, waren zunächst nicht-jüdische Menschen die Hauptopfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. In den Mordaktionen an der sogenannten „polnischen Intelligenz" sieht Pohl aber nicht den wichtigsten Ansatz zur Erklärung des Judengenozids. Entscheidend seien vielmehr die Rasse- und Siedlungsplanungen durch junge Akademiker seit 1937. Pohl nahm dabei explizit auf die aktuelle Kontroverse um Theodor Schieder Bezug. Er schätzt die Distanzierungen der ehemaligen Schüler Schieders als „bisher nicht weitreichend genug" ein.

Gettoisierung

Projektierte Maßnahmen, wie die Errichtung eines „Judenreservates" in Lublin oder eines Siedlungsgebietes im Raum Nisko scheiterten zu Anfang des Jahres 1940, insbesondere wegen des Widerstandes der regionalen und lokalen Verwaltungsinstanzen im Generalgouvernement.

Die Bildung von Gettos in Lodz oder Warschau dürfte vor diesem Hintergrund aus dem Blick der Besatzungspolitik als vorübergehende Notlösung verstanden worden sein. Dafür spricht, dass die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung nach wie vor in sogenannten „offenen Gettos" lebte – in der Provinz kam es erst im Frühjahr 1941 zu systematischen Gettoisierungen. In Lemberg scheiterte im November 1941 die Einrichtung eines Gettos beispielsweise an der Gesundheitsverwaltung. Erst unmittelbar vor den Deportationen kann auf ein ansatzweise einheitliches Konzept geschlossen werden. Pohl vertritt die Auffassung, dass bereits für das Frühjahr 1941 trotzdem von „schleichender Vernichtungspolitik" gesprochen werden kann: „Mit 4000 Toten pro Monat war der Genozid im Warschauer Getto bereits in vollem Gang".

Radikalisierung

Die Entwicklung zum umfassenden Völkermord ergab sich aus dem Angriff auf die Sowjetunion. Generalgouverneur Frank erhielt aus Berlin die Zusage, dass im Verlauf des Krieges die Juden aus seinem Machtbereich verschwinden würden. Als Gedankenspiele tauchten gigantischen Abschiebungsprojekte auf. Insbesondere der „Madagaskar-Plan" habe dabei noch lange in den Köpfen der Akteure gewirkt. Die denkbaren Umstände derartiger Deportationen, legen den Schluss nahe, dass bereits in dieser Phase mit massenhaften Todeszahlen kalkuliert wurde.

Die Einsatzgruppen von Gestapo und SD töteten in der UdSSR zunächst nur erwachsene Männer, ab Ende Juli dann auch Frauen und Kinder. Mitte September begann dann die Phase der Totalvernichtung jüdischer Gemeinden. Die Geschehnisse und deren Gewaltpotential wirkten zurück auf das Generalgouvernement. So begann mit dem „Stanislauer Blutsonntag" im Oktober 1941 eine Unzahl von Massenmorden in Südostgalizien. Obwohl von Systematik noch nicht gesprochen werden könne, begann zu diesem Zeitpunkt der „direkte Völkermord" im Generalgouvernement. Gleichzeitig fanden Unterredungen zwischen Himmler und Globocnik, vermutlich über die Errichtung von Vernichtungslagen, statt. Der „Judenzählung" vom Mai 1942 folgte ab dem 22./23. Juli der Beginn der Deportationen aus Warschau, die Pohl als Auftakt zur „Totalvernichtungsphase" sieht, während der täglich 10.000e Menschen ermordet wurden.

Probleme beim Massenmord

Der Massenmord an den polnischen Juden verlief nicht reibungslos. So beschwerten sich Rüstungswirtschaft und Wehrmacht darüber, dass auch aus den kriegswichtigen Produktionsstätten viele Arbeiterinnen und Arbeiter deportiert wurden. Ein weiteres Problem bestand darin, dass viele Jüdinnen und Juden sich dazu entschlossen in die Wälder zu fliehen. Die Polizeibataillone, die mit der „Judenjagd" beauftragt waren, mussten die ehemaligen Gettos nach gewissen Zeitabständen bis zu fünf Mal durchkämmen, um sogenannte „Nachaktionen" durchzuführen.

Jüdischer Widerstand

Schon ab Anfang 1942 wurden erste Widerstandsaktionen durchgeführt. Im Oktober und November gab es dann die ersten Aufstände in Ostpolen, insbesondere in mittelgroßen Gettos. Wie überall handelte es sich auch hier um aussichtslosen Widerstand. Das Bild vom jüdischen Widerstand, so Pohl, sei zudem stark geprägt durch den Aufstand im Warschauer Getto. Pohl machte darauf aufmerksam, dass der „Stroop-Bericht" wesentlich dazu beigetragen habe, unser Bild von den Ereignissen zu zeichnen. „Im Grunde", so Pohl, „war der Aufstand ein einziges Massaker an Juden."

Das Ende der polnischen Juden

Von den ursprünglich etwa 2 Millionen jüdischen Menschen im Generalgouvernement lebten am 26. Juni 1943 nur noch etwa 200.000. Sie wurden in Arbeitslagern festgehalten, wo sie in der Rüstungsproduktion eingesetzt wurden. Obwohl es, so Pohl, durchaus beabsichtigt war, einen Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter am Leben zu lassen, wurden sie sukzessive ermordet. Während der „Aktion Erntefest" am 3./4. 11. 43, die Pohl als Reaktion auf den Aufstand im Vernichtungslager Sobibor (14. 10. 1943) betrachtet, wurden im gesamten Generalgouvernement noch einmal mindestens 42.000 jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter erschossen. Damit war die Vernichtung der polnischen Juden abgeschlossen. Lediglich im Distrikt Radom gab es noch Überlebensmöglichkeiten. Die Spuren der Überlebenden verlieren sich schließlich in den Evakuierungstransporten.

Die Zivilverwaltung im Distrikt Galizien

Das Generalgouvernement als „erste Kolonie des Dritten Reiches" (Pohl) bestand zunächst aus den Distrikten Radom, Warschau, Lublin und Krakau. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam Galizien als fünfter Distrikt hinzu. Die Distrikte waren in Kreishauptmannschaften (Landkreise) unterteilt, denen Kreishauptleute vorstanden. Dabei handelte es sich um eine relativ homogene Personengruppe, unter der sich viele Juristen befanden, die z.T. während der Weimarer Republik in rechtsextremen Gruppen sozialisiert wurden.

Konflikte zwischen SS-Behörden und Zivilverwaltung hatten lange Zeit die Forschungsdebatten dominiert. Pohl vertritt hingegen die Ansicht, dass es in Bezug auf Zielvorstellungen relativ einheitliche Diskurse gegeben habe, die gerade in der „Judenpolitik" gemeinsames Handeln ermöglichten. So wurde beispielsweise der Schießbefehl gegen aus Gettos entflohene Juden durch die Zivilverwaltung erteilt. Außerdem beteiligte sich die Zivilverwaltung häufig an Absprachen bzgl. der Massenmorde, wie z.B. in Stanislau. Für dieses Fallbeispiel kann nachgewiesen werden, dass Verwaltungsstellen um eine „Reduzierung der Juden" ersuchten. In Lemberg war es allein die Stadtverwaltung, die Deportation und Ermordung einleitete. Gettoräumungen und Deportationen radikalisierten sich ab August 1942 zu reinsten Massakern. Kranke, Waisenkinder und alte Menschen wurde an Ort und Stelle erschossen, in der Regel unter Beihilfe des „Sonderdienstes", der sich aus einheimischen Volksdeutschen zusammensetzte, in einigen Fällen beteiligten sich sogar Mitarbeiter der deutschen Sparkassen.

Nach dem Krieg wurden nur sehr wenige Verwaltungsbeamte aus dem Generalgouvernement strafrechtlich verfolgt. Es gelang, in der Regel durch Zeugenabsprachen, über die wichtige Bedeutung der zivilen Verwaltungsstelen für NS-Verbrechen in Polen hinweg zu täuschen, so z.B. über die Mitverantwortung für Erschießungen. Vielen Verwaltungsfunktionären des Generalgouvernements gelang es, ihre Laufbahnen in der Bundesrepublik fortzusetzen. Nicht selten gelangen sogar Aufstiege bis auf Ministeriumsebene. Im Bundesverteidigungsministerium und im Schleswig-Holsteinischen Sozialministerium hatte es über sehr lange Zeit hinweg regelrechte „Generalgouvernement-Seilschaften" gegeben.

Diskussion und Fazit

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten von der Eloquenz und dem ausgezeichneten Sachverstand des Referenten auch in den Diskussionen profitieren. Pohl äußerte sich beispielsweise zu Bogdan Musials These, dass zwischen den NKDW-Morden in Ostpolen und den Judenmorden durch deutsche Einheiten ein Kausalzusammenhang bestünde, sehr differenziert. Er mahnte an, hier gelte es „genau zu schauen" und situative Unterschiede zu berücksichtigen. Eine generelle Aussage könne deshalb nicht getroffen werden. Sowohl sowjetische als auch deutsche Einheiten wären in Polen aber mit äußerster Grausamkeit vorgegangen.

Die Frage eines Teilnehmers, wo denn nach 1945 das ungeheure Gewaltpotential des Krieges und des Holocaust abgeblieben sei, hielt Pohl für nicht wirklich beantwortbar. Hier könne nur spekuliert werden. Ein Grund liege sicherlich in der Selbstwahrnehmung der Täter, die sich reaktiv handelnd sahen und somit die ungeheuren Verbrechen während des Krieges auch retrospektiv rationalisierten. Zum Zweiten habe wohl der Antikommunismus der 50er Jahre eine Projektionsfläche geschaffen.

Das Tageseminar hat dazu beigetragen, dass „amorphe Bild" des Holocaust, jenseits von „Verwaltungsmassenmord" mit bürokratischen und leidenschaftslosen Tätern, weiter bekannt zu machen. Der Holocaust war vor allem östlich von Auschwitz ein zum großen Teil improvisiertes, archaisches Verbrechen mit unzähligen kleinen und mittleren Massakern. [Karsten Wilke, Bielefeld]