Die Ausschreitungen des 9. und 10. November 1938 

Die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 ist heute im Geschichtsbewusstsein der deutschen Öffentlichkeit mit Begriffen wie »Kristallnacht«, »Reichskristallnacht«, »Pogromnacht« oder »Reichspogromnacht« verankert. Der Pogrom, den die Nazis damals anzettelten und an dem viele nichtjüdische Deutsche Anteil hatten, gilt als ein Testfall der antijüdischen Politik der Nazis.

Die Herkunft der Wortes »Kristallnacht« ist ungeklärt - mit dem Wort sei das Bild der zerbrochenen Glasscheiben eingefangen, so die unschuldige Deutung. Eine Verharmlosung angesichts der zahlreichen ermordeten Juden und der weitreichenden Bedeutung des Geschehens, wenden Kritiker des Begriffes ein, und oft klingen Zweifel an, ob das Wort nicht von den Nazis selbst geprägt wurde. Mit dem Wort »Pogromnacht« erinnern wir uns der besonderen Qualität des Ereignisses - Pogrome wurden bereits die - oft staatlich gelenkten - Ausschreitungen gegen Juden im zaristischen Russland genannt, das Wort »Pogrom« selbst stammt aus dem Russischen und steht für »Sturm« und »Vernichtung«. »Reichspogromnacht« gilt als hilfloser Kompromiss. Wir verwenden hier den Begriff der »Pogromnacht«. 

Am Beispiel von Hamburg-Harburg, bis 1937 selbständige preußische Stadt, dann Stadtteil Hamburgs, sollen hier die Ereignisse im Ansatz dargestellt werden. Diese Darstellung beruht auf verschiedenen Quellen - auf erhalten gebliebenen Schilderungen später ermordeter und überlebender Harburger Juden, den Berichten von nicht-jüdischen »Zeitzeugen«, Dokumenten aus der Zeit selbst und auf den Beschreibungen von späteren polizeilichen und juristischen Quellen. 

Der Quellennachweis wird hier nicht in historisch akkurater Weise dargeboten, da Harburg hier als Beispiel gilt, als eine Art Fallstudie, wo entsprechende Nachweise den Lesefluss stören würden. Wenn Sie Fragen zum Nachweis der einzelnen Quellen haben, wenden Sie sich gerne per eMail an die FAS.    

 

Die Ausschreitungen des 9. und 10. November 1938 in Hamburg-Harburg

In Hamburg-Harburg wurden die Juden und all jene, die nach den nationalsozialistischen Rassekriterien als Juden galten, ebenso verfolgt wie überall sonst im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945.

han9nov1.jpg (272692 Byte)Für die Geschehnisse des 9. und 10. November 1938 in Harburg gibt es eine recht umfangreiche Quellengrundlage. Es ist neben zahlreichen Berichten und Dokumenten, die aus der Perspektive jüdischer und nichtjüdischer »Zeitzeugen« von den Ereignissen jener Tage erzählen, auch der links dokumentierte Zeitungsbericht der »Harburger Anzeigen und Nachrichten« erhalten geblieben, der die Nazi-Sicht der Dinge wiedergibt.

Während eine Eintragung in das Wachbuch der Harburger Feuerwehr erhalten geblieben ist, sind die Wachbücher der Harburger Polizei allerdings verschollen, da sie vermutlich im Mai oder Juni des Jahres 1945 von Polizeiangehörigen vernichtet wurden. Dafür gibt es eine andere Quelle von unschätzbarem Wert - die Ermittlungsakten (1946 bis 1948) und den Urteilsband zum Prozess (1949) gegen die Synagogenschänder.

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorgeschichte des Pogroms

Das Attentat auf den Botschaftssekretär vom Rath in Paris, das Herschel Grynszpan im November 1938 verübte, und an dessen Folgen vom Rath am 9.November erlag, nahmen die Nazis zum willkommenen Anlass für die neuerliche Verschärfung ihrer antijüdischen Maßnahmen, beginnend mit den Ausschreitungen in der Nacht vom 9. zum 10.November 1938.

Am 28. Oktober 1938 wurde auch die Familie Herschel Grynszpans, sein Vater Sendel und seine Mutter Riwka Grynszpan sowie deren Kinder Berta und Markus im Zuge der »Polenausweisung« von Hannover aus nach dem deutsch-polnischen Grenzgebiet bei Neu-Bentschen bzw. Zbaszyn deportiert. Herschel Grynszpan lebte zu jener Zeit in Paris.

Die in Harburg aufgewachsene Erna Wellner war im »Krankenhaus« von Zbaszyn mit Berta Grynszpan zusammengetroffen, mit der Schwester des Attentäters Herschel Grynszpan. Diese hatte aus Zbaszyn eine Postkarte an ihren in Paris lebenden Bruder Herschel geschrieben, in der sie das Los der aus Hannover vertriebenen Familie beschrieb. Die Deportation seiner Familie mag der Anlass für Herschel Grynszpan gewesen sein, durch das Attentat die Aufmerksamkeit der Welt auf die Lage der Deportierten zu richten.

 Mit großen Lettern berichteten die Zeitungen im Deutschen Reich von dem Attentat. Am 9.November begingen die Nazis wie gewohnt reichsweit ihre Gedenkfeiern in Erinnerung an den Putsch-Versuch Hitlers vom 9. November 1923, dem sogenannten »Marsch auf die Feldherrnhalle«. In Harburg war die »Feierstunde 9.November« für 18.00 Uhr in der Stadthalle Harburg angesetzt.

Unklar bleibt, ob sich die Harburger Nationalsozialisten, die sich dort trafen, in Bezug auf ein mögliches Vorgehen gegen Einrichtungen der jüdischen Gemeinde oder gegen Geschäfte jüdischer Eigentümer absprachen. Das Urteil des Prozesses gegen die Synagogenschänder vom 27.April 1949 gibt wenig gesicherte Anhaltspunkte zu den Vorbereitungen der Ausschreitungen in Harburg. Zu dem Vorgang in Hamburg folgte das Gericht den Aussagen des als Zeugen vorgeladenen Kaufmann, übernahm seine Selbstdarstellung:

»Der damalige Gauleiter und Reichsstatthalter, der Zeuge Kaufmann, wurde in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 von dem Leiter der Staatspolizei-Leitstelle in Hamburg, Steckenbach, fernmündlich davon unterrichtet, dass mit Ausschreitungen gegen die Juden in Hamburg zu gerechnet werden könne. Kaufmann war Gegner einer gewaltsamen Lösung der Judenfrage. Er rief noch in der Nacht einen Teil der ihm unterstellten Kreisleiter der NSDAP persönlich an und ließ diejenigen, die er nicht erreichen konnte, in den frühen Morgenstunden des 10.November 1938 davon unterrichten, dass unter allen Umständen jegliche Aktionen gegen Juden zu verhindern seien. Ungeachtet dieser Anordnung des Zeugen Kaufmann kam es in jener Nacht in Hamburg zu gründlichen Zerstörungen einer großen Anzahl jüdischer Geschäfte, unter denen die Zerstörungen in der Innenstadt […] der Öffentlichkeit besonders in die Augen fielen.«

Diese auf Kaufmanns Aussagen beruhende Darstellung ist sicherlich zu relativieren, waren sie doch auch sicherlich von dem Ziel Kaufmanns zumindest mitbestimmt, den eigenen, juristisch verwertbaren Anteil an dem Zustandekommen der Verfolgungs- und Zerstörungsmaßnahmen jener Tage so klein wie möglich erscheinen zu lassen. Im Urteil heißt es weiter in Hinblick auf die Harburger Verhältnisse:

»Im Stadtteil Harburg ist es in der Nacht vom 9. zum 10.November 1938 lediglich zur Zertrümmerung einiger Schaufensterscheiben des am Sand belegenen Geschäfts Laser gekommen. Am Nachmittag des 9.November 1938 hatte die Kreisleitung unter Hinzuziehung von Angehörigen aller Organisationen der nationalsozialistischen Bewegung die üblichen Revolutionsfeier abgehalten, in deren Rahmen der Angeklagte (und ehemalige Harburger NSDAP-Kreisleiter) Drescher eine Rede hielt, in der er u.a. Stellung nahm gegen das Attentat. In den frühen Morgenstunden des 10.November 1938 lag dem Angeklagten ein Fernspruch mit dem Befehl des Zeugen Kaufmann vor, dass Demonstrationen gegen die Juden zu unterbleiben hätten. Drescher ließ diesen Befehl am Vormittag des 10.November an die unterstellten Ortsgruppen und an die Gliederungen der Partei in Harburg durchgeben. Bei der SA-Standarte 9 ging überdies ein dem Sinne nach gleicher Befehl der vorgesetzten Behörde ein. Diesen Befehlen zum Trotz zerstörten Angehörige der Partei, der SA und der HJ am 10.November 1938 die Synagoge, die jüdische Leichenhalle und eine große Zahl jüdischer oder ehemals jüdischer Geschäfte in Harburg.«

Es liegen keine durch schriftliche Quellen belegte Anhaltspunkte dafür vor, dass es am 9. November ein ernsthaftes Verbot von Ausschreitungen für Hamburg bzw. Harburg gegeben hat. Am Nachmittag des 10.November setzte Heydrich ein Blitzfernschreiben an die Staatspolizei- Leitstellen ab, in dem es hieß:

»Die Protestaktionen sind eingestellt. […] Im Benehmen mit der Ordnungspolizei ist für die kommende Nacht verstärkter Streifendienst einzusetzen. Etwa noch erfolgende Aktionen sind möglichst zu verhindern, jedoch ist hierbei Rücksicht zu nehmen auf die berechtigte Empörung der Bevölkerung.«

Es mag sein, dass dieser Befehl entscheidend dazu beitrug, die Harburger Nazis daran zu erinnern, dass bei ihnen die »berechtigte Empörung der Bevölkerung«, wie Heydrich es nannte (und die ja tatsächlich eine von den Nationalsozialisten inszenierte Ausschreitung war, die sie als »Volkszorn« quasi zu legitimieren versuchten) noch nicht stattgefunden hatte.

Hermann Westphal, als Sozialist im Widerstand gegen die Nazis, erlebte die Ausschreitungen gegen die Synagoge und die Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof in Harburg. Er erfuhr von den Vorbereitungen für den organisierten »Volkszorn« durch Zufall am Nachmittag des 10. November 1938:

»Der ‚Volkszorn’ hatte sich am neunten nicht in Harburg entfaltet, und dann hat die Partei wohl gemeint, sie müsste mit ihren Gliederungen eine solche Veranstaltung starten, und ich hab durch einen Zufall davon Kenntnis bekommen, dass diese Geschichte abends um acht oder um sieben stattfinden sollte. Wir wohnten ganz in der Nähe von der Synagoge - im Volksmund sagte man in Harburg Judentempel. Bei mir im Haus wohnte ein Nationalsozialist, und der wurde nachmittags alarmiert. Das haben wir zufällig gehört. Es kam also ein Mann, und der sagte wörtlich: ‚Heute Abend um - die Uhrzeit weiß ich nicht mehr genau - am Landratsamt treffen wir uns alle, in Räuberzivil, wir wollen den Judentempel anstecken.’«

Auch Claus Günther (Jg.1931) erfuhr im Laufe des Tages des 10. November von den geplanten Ausschreitungen, an denen sein Vater als SA-Mann teilnehmen sollte:

»An den 10.November 1938 erinnere ich mich als einen von Unruhe erfüllten Tag. In der Nacht zuvor waren überall im Deutschen Reich Synagogen zerstört, jüdische Geschäfte demoliert und viele Juden verhaftet, gefoltert und sogar getötet wurden, ‚auf der Flucht’, wie es hieß. Mit weiteren ‚Vergeltungsakten’, vor allem in Harburg, musste gerechnet werden, ganz offen wurde darüber geredet. Am Abend zog mein Vater seine SA-Uniform an, er musste zum Sondereinsatz. Ich sollte ins Bett, aber konnte nicht schlafen. Schließlich durfte ich mit ausgucken. Gegenüber, hinter dem großen Schulgebäude, gewahrte ich ein seltsames Flackern am rötlichen Himmel. Später habe ich erfahren, dass die Leichenhalle in Brand gesetzt worden war, am Schwarzenberg, beim jüdischen Friedhof. Als dann der SA-Trupp unter unserem Fenster vorbeimarschierte, trug mein Vater zum ersten Mal die Fahne, und ich war sehr stolz auf ihn. Einige der SA-Männer hielten brennende Fackeln in den Händen, ein weiterer schlug rhythmisch die Trommel. Nur gesungen haben sie nicht, das fand ich schade.«

Wieweit auch in Harburg Juden im Zusammenhang mit der reichsweiten Verhaftungswelle jener Tage inhaftiert wurden, ist nicht mehr zu ermitteln. Wohl lässt sich etwa aus den Briefen des bereits mehrfach erwähnten jüdischen Schusters Karl Maidanek und aus dem Urteil zum Synagogen-Prozess erschließen, dass z.B. Maidanek sich im November 1938 in Haft befand. Auch Max Pommerantz sollte verhaftet werden, konnte jedoch entkommen, wie seine Schwiegermutter Johanna Meier später notierte:

»Verhaftungen auf Verhaftungen folgten. Die Konzentrationslager öffneten sich weit. […] Eines Morgens früh kam ein Freund zu uns und sagte zu meinem Schwiegersohn: ‚Machen Sie sich schnell aus dem Staube, auch alle deutschen jüdischen Männer werden verhaftet!’ Mein Schwiegersohn entging dem Unglück, indem er erst nach Berlin und dann nach Cöln fuhr. Einige Stunden später erschienen die Häscher - halbwüchsige Burschens. Sie sahen in alle Zimmer, ob er sich nicht versteckt habe. Am anderen Tage erschien wieder einer. ‚Warum meldet sich Ihr Mann nicht?’ - ‚Mein Mann ist nicht feige, er hat den ganzen Weltkrieg mitgemacht, aber einem solchen Richtercollegium stellt er sich nicht.’ ‚Ja’, sagte der Beamte, ‚wenn ich sagen würde, was ich denke, säße ich selber schon im K.Z.’«

Wenn es aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials auch nicht möglich erscheint, die Entscheidungsprozesse, die die Vorbereitung der - um einen Tag verspäteten - Ausschreitungen begleiteten, nachzuzeichnen, so ist es doch möglich, die Vorgänge selber etwas näher zu beleuchten.

Unsicherheiten bleiben jedoch auch, was die genaue zeitliche Abfolge der Geschehnisse betrifft. Offensichtlich begann das Zerstörungswerk auf dem jüdischen Friedhof am Schwarzenberg, um dann an der Synagoge in der Eißendorfer Straße fortgesetzt zu werden. In dem Gotteshaus erbeutete Kultgegenstände wurden dann zum Harburger Marktplatz, dem Sand, gebracht und dort verbrannt. Wir werden die einzelnen Orte des Geschehens in der folgenden Darstellung jeweils kurz einzeln aufsuchen.

Über die Täter...