»Wenn
ich einst ins Ausland…«
Karl
Maidanek (* 7.12.1889 Unter-Wikow) betrieb in Harburg eine Schuhmacherei und
Lederhandlung. Dort lebte er mit seiner Frau Helene (* Rosenbaum, 3.1.1891
Zierenberg) und den in Harburg geborenen Söhnen Herbert (* 5.4.1920) und John
(* 24.4.1924) lebten in bescheidenen Verhältnissen.
Herbert,
Helene, Karl und John Maidanek
(undatierte Fotocollage von John Maidanek)
Die
folgenden Zitate stammen aus Briefen John Maidaneks an den Hamburger Historiker
Matthias Heyl:
Ich
erinnere mich an den 1. April 1933, den sogenannten »Abwehrboykott«. Mein
Vater besaß eine Schuhmacherwerkstatt in der Lasallestraße. Vor dem Laden
standen zwei SA-Männer, die die bekannten Entwürdigungsschilder [die zum
Boykott der Läden jüdischer Besitzer aufriefen] bewachten. Eines der
Schilder fiel um, und mein Vater kam aus dem Laden, um es aufzuheben, aber
er wurde sofort von einem der Nazis angeschnauzt.
Familienleben:
Die Maidaneks waren eine recht fromme
Familie. Mein Vater verlangte, dass wir alle jeden Sonnabend zur Synagoge
gingen, und auch, dass wir alle jüdischen Feiertage hielten. Wenn es ihm
irgend möglich war, schloss er seinen Laden an diesen Tagen, um mitzufeiern.
Bis zu meiner Abreise, und vielleicht noch einige Jahre danach, hielt meine
Familie einen koscheren Haushalt.
Die
Söhne besuchten die Talmud Thora Schule im Hamburger Grindelviertel beim
Dammtorbahnhof.
Ich wurde 1924 in Harburg geboren und
besuchte dort die Grundschule, deren Namen ich vergessen habe. Sie lag
sicher in der Nähe unserer Wohnung (Wilstorfer Straße 49). Wegen des
Antisemitismus und allgemeinerer Anfeindungen ließen meine Eltern mich
vermutlich 1933 zur Talmud-Thora-Schule nach Hamburg wechseln. Zu Anfang des
Jahres 1935, noch ehe ich das fünfte Schuljahr beendet hatte, wanderte ich
nach Amerika aus. In der Talmud-Thora-Schule bekam ich einen sowohl in
weltlicher, als auch in religiöser Hinsicht sehr guten Unterricht. Zum
Religionsunterricht musste ich - wie die anderen jüdischen Jungens - am
Sonntag (statt am Samstag) nach Hamburg fahren. Der Schuldirektor hieß
Nachum und war ein entfernter Verwandter von mir. Wenn ich nicht irre, wurde
er genau wie Alfred Gordon, wie meine Eltern und mein Bruder und wie viele
andere Harburger Juden, am 25. Oktober 1941 nach Lodz deportiert. Einige
Male im Jahr veranstaltete die Schule Schulausflüge, entweder in die
Harburger Berge oder auf die Alster. Das waren herrliche, wunderschöne
Schuljahre! Zu jener Zeit war ich Mitglied zweier zionistischer Bünde,
nämlich zuerst der Habonim, und
später des Haschomer Hazair. Ich erinnere mich
noch an einen Nacht-Ausflug nach Berlin mit dem Lastwagen.Damals
waren, glaube ich, fast alle jüdischen Jungens und Mädchen Zionisten, mit
viel Idealismus und Begeisterung wollten sie nach Palästina auswandern.
Mein Bruder Herbert, der sich sehr bemüht hat, als Challuz
auszuwandern, schaffte es nicht und wurde mitsamt unseren Eltern an jenem
verhängnisvollen Tag deportiert.
1935
gelang es den Eltern, den jüngsten Sohn Herbert mit einem ð
Kindertransport außer Landes zu bringen. Sein Bruder Herbert bereitete
sich für die Auswanderung ins damalige Palästina vor, die ihm jedoch nicht
mehr gelang. Auch den Eltern gelang es nicht mehr, aus Deutschland zu fliehen.
Am 31. Januar 1935 gelangte ich mit
einem Kindertransport nach New York, wo ich am 7. Februar landete. Am selben
Tag wurde ich von einer Repräsentantin des Jüdischen Komitees abgeholt und
einige Tage später bei jüdischen Pflegeeltern untergebracht. Ich lebte
etwa acht Monate bei dieser Familie und besuchte die örtliche Grundschule,
wo ich die fünfte Klasse vollendete. Wegen mangelnder Englisch-Kenntnisse
wurde ich um ein Jahr zurückversetzt. Gegen September/Oktober 1935 wurde
ich zu Pflegeeltern nach St. Louis gegeben. Von 1935 bis 1942 lebte ich bei
verschiedenen Familien, bis ich in meinem 18.Lebensjahr vollständig
unabhängig wurde. Erwähnenswert wäre vielleicht, dass ich als 13jähriger
Junge meine Bar Mitzwah feierte. Mit 17 3/4
beendete ich die Oberschule und einige Monate später immatrikulierte mich
bei einer Lehrerbildungsanstalt.
In
den folgenden Jahren bestand der einzige Kontakt zwischen John und seiner
Familie in Briefen, die die räumliche Distanz nur schwer überbrückten. Hier
sind Auszüge aus den Briefen der in Hamburg verbliebenen Familie dokumentiert:
Es ist wahr, dass alle deutschen
Juden seit Gesetz vom 15.9.35 keine Staatsbürger und auch Reichsdeutschen,
sondern Reichsangehörige Gäste sind. Bevor dieses Gesetz herauskam, wurden
alle eingebürgerten Ostjuden ausgebürgert. Seit 16. Mai 35 sind wir alle 4
staatenlos. Wir 3 haben als Staatenlose je 1 Fremdenpass bekommen, der für
1 Jahr gilt und vor Ablauf des Jahres von der Polizei auf je 1 Jahr
verlängert wird. Unsere beiden Pässe mussten wir bis Monatsende
verlängern, während Herbert seinen Pass in Schlüchtern einige Monate
später als wir erhalten hat, daher noch länger gilt. Aus diesem Grunde
bist auch Du seit 16.5.35 staatenlos. [Karl Maidanek an John Maidanek, 11.
Juni 1936]
»…zum
Judentum bekennen…«:
Es gibt aber
Juden wie Nichtjuden in der ganzen Welt, die von dem Glauben an G'tt meist
nichts mehr wissen wollen. Sie behaupten, dass vieles, was sich in der Welt
abspielt, wie Leben und Tod, sowie Schöpfung und Untergang, nur von der Natur
ausgeht. Ganz besonders sind es die Kommunisten, die gottlos sind. Und wenn es
Juden gewesen sind, so haben sie eben durch die G'ttlosigkeit aufgehört,
Juden zu sein. Die jüdische Geschichte lehrt, dass es immer Zeiten gegeben
hat, dass, wenn die Juden ihren Glauben verleugneten, sie von den anderen
Völkern unterdrückt und verfolgt wurden. Die Zerstörung der beiden Tempel
in Jerusalem waren auch die Folge der Entartung des Judentums. Ein gleiches
Schicksal hat dem Judentum in Deutschland seit 1933 gebracht, weil es sich vom
Judentum abgewandt und assimiliert hatte. Deshalb sollte jeder Jude sich
seines Stammes bewusst sein und zum Judentum bekennen. Dazu gehört auch, dass
man jüdische Gesetze, Lehre und Tradition pflegt, soweit es möglich ist. Es
trifft nicht zu, dass es den Juden in Deutschland verboten sei, G'ttesdienst
zu verrichten. Im Gegenteil: vielen Juden - besonders in den Großstädten -
ist es zum Bewusstsein gekommen, dass sie sich der Religiosität mehr
zuwenden, als zuvor. Allerdings wurde das ð Tierschächten ohne
vorherige Betäubung verboten [...] Weil viele Juden aus den Dörfern und
Kleinstädten in die Großstädte umgezogen sind, sind die Sitzplätze in den
Synagogen fast restlos vermietet, und es herrscht Platzmangel. In Harburg
dagegen sind fast (...) der Sitzbänke unbesetzt. Seit Anfang dieses Jahres
untersteht die hiesige Gemeinde der Hamburger Synagogengemeinde. Ebenso Altona
und Wandsbek. [Karl Maidanek an John Maidanek, 20. März 1938]
Findet
heraus, warum Karl Maidanek »G’tt« schreibt.
-
»Flaggen«
/ »…immer schwieriger…«:
Lieber
Jonny, Du hast Recht, wenn Du Dich noch erinnerst, dass Bauer sagte, ein
Jude sollte eine Hakenkreuzfahne an die Geschäftstüre (nicht Hitlergruß)
anmachen. Von seinem Standpunkte mag er im Rechten gewesen sein. Die Dinge
lagen aber anders. Als Geschäftsmann, der im neuen Deutschland von 99%
Nichtjuden (auch Nationalsozialisten) leben will, konnte sich damals bei
festlichen Veranstaltungen nicht ausschließen, seine Schaufenster oder
Ladentür mit Fähnchen zu schmücken. Seit 1933 schmückte man mit
schwarz-weiß-rot (alte Traditionsfarben) und daneben die Hakenkreuzfahne.
Es war auch den Juden erlaubt, diese beiden Fähnchen miteinander
anzubringen. Erst am 15.9.35 kamen zwei neue Gesetze: 1. Die Hakenkreuzfahne
ist die alleinige Reichsflagge (ohne die alte). 2. Alle Juden in Deutschland
sind nicht mehr Staatsbürger, sondern Reichsangehörige. Seit dieser Zeit
dürfen Juden überhaupt nicht mehr flaggen. […]
Das Leben für Juden wird in Deutschland immer schwieriger. so wohnen hier
nur noch sehr wenig jüdische Familien. Neuwirth hat kein Geschäft mehr.
Schmerler macht Totalausverkauf wegen Geschäftsaufgabe. Auch Pommerantz
wird sein Geschäft (...) abgeben. [Karl Maidanek an John Maidanek, 10.
April 1938]
-
Wohnung
/ »Pflichtarbeit«:
Seit 1.11.34
wohnen wir in einem Hause, wo Du noch hier warst, das der Stadt gehört. Vor
3 Jahren wurden sämtlichen 15 jüdischen Familien - darunter auch uns - die
städtischen Wohnungen gekündigt. Während die 14 Familien ihre Wohnungen
bis 31.12.35 geräumt hatten, durften wir - ausnahmsweise - bis auf weiteres
die Wohnung behalten. Jetzt hat man auch uns aufgefordert, die Wohnung bis
31.12.38 zu räumen. Es nützt auch nichts, wenn wir beweisen, dass es hier
keinen christlichen Hauswirt gibt, der uns vermieten will. Obwohl mehrere
Juden selbst Wohnhäuser besitzen, können sie ihren christlichen Mietern
nicht kündigen und zum Räumen zwingen. Wir wissen also noch nicht, wohin
wir ziehen werden. Herr Gordon hat auch schon versucht, dass die Hamburger
jüdische Gemeinde uns dazu verhilft, dass wir dort eine Wohnung und
eventuell einen Laden bekommen sollten. Die jüdische Gemeinde kann uns aber
nicht das hierzu notwendige Geld geben, weil es von Monat zu Monat immer
mehr verarmte jüdische Familien gibt, die man unterstützen muss. Je mehr
reiche Juden aus Deutschland auswandern, umso mehr verarmen die jüdischen
Gemeinden, weil sie weniger Steuern hereinbekommen und auch sonstige Spenden
fehlen. Es kommt noch hinzu, dass ein neues Gesetz bestimmt, dass alle
reichsdeutschen Juden und Staatenlose ab 1.1.39 neben ihren
deutschklingenden Vornamen noch zusätzlich einen echtjüdischen Namen wie
Israel, Sarah usw. annehmen müssen. Die jüdischen Geschäfte werden also
auch solche Namen auf die Ladentür oder Schaufenster anmalen müssen. Was
das bedeutet, dürfte Dir auch einleuchten. Dann werde ich, um
Wohlfahrtsunterstützung zu bekommen, Pflichtarbeit annehmen müssen. [Karl
Maidanek an John Maidanek, 28. August 1938]
-
»Hachschara«:
Mein lieber Bruder Jonni! Herzlichen
Dank für Deinen lieben Brief vom 12.8.38, mit dem ich mich sehr gefreut
habe. Du wirst Dich sicher wundern, dass ich nicht mehr im Grüsen bin, ich
will Dir nun den Grund mitteilen. Ich war etwa 14 Tage bei den l. Eltern,
als ich von Grüsen einen Brief bekam, worin mir mitgeteilt wurde, dass dort
unangenehme Zwischenfälle waren u. die Staatspolizei unsere Gruppe von 40
Leuten auf 25 herabgesetzt hat, da die Bevölkerung uns nicht dulden konnte.
Der Antisemitismus ist in der Gegend sehr stark, sodass ich dadurch leider
nicht bleiben konnte. Hier ist eine viel größere Hachschara
als in Grüsen. Es sind z.Zt. 70 Chawerim hier.
420 Morgen Land, Kühe, Pferde, also ein großes landwirtschaftliches Gut,
wo ich sehr viel noch hinzulernen kann. [Herbert Maidanek an John Maidanek,
28. August 1938]
-
Umzug:
Ab 20.9.38 bin ich nun beim
Synagogenverband als Schammes angestellt. Die
Dienstwohnung besteht aus drei großen Wohnzimmern, 1 große Küche und 1
Speisekammer, so dass sie für uns groß genug ist. Wir brauchen keine Miete
zu zahlen und haben Gas, Licht und Heizung frei. Am 1.11.38 werden wir, so
G'tt will, umziehen. Wir sind schon beim Einpacken. [Karl Maidanek an John
Maidanek, 28. Oktober 1938]
Knapp
eine Woche vor dem Novemberpogrom also zog die Familie Maidanek in
die Kellerwohnung unter der Harburger Synagoge in der Eißendorfer Straße
15.
Vorderansicht
der Harburger Synagoge
Johanna
Meier, eine Harburger Jüdin, der die Emigration in die Schweiz glückte,
erinnerte sich:
-
Als
der Tempeldiener, ein Jude, von der beabsichtigten Brandstiftung der
Synagoge hörte, eilte er nach der Polizei. »Schützen Sie uns, man will
die Synagoge anzünden!« - »Ja«, sagten die Beamten lachend, »wir wollen
Sie schützen. Bleiben Sie nur gleich hier!« - und sie hielten ihn fest.
Karl
Maidanek wurde verhaftet. Seine Frau befand sich währenddessen in Gesellschaft
von zwei hinzugeeilten Bekannten in der Wohnung, als die Harburger Nazis unter
großer Anteilnahme der Bevölkerung begannen, die Harburger Synagoge zu
verwüsten.
In
dem Urteilstext zum Prozess gegen die Harburger Nazis, die im November 1938 die
Harburger Synagoge und den Friedhof der jüdischen Gemeinde zerstörten, heißt
es:
-
Nachdem
die Zerstörungen eine geraume Zeit angehalten hatten und der Lärm etwas
nachließ, wagten sich die in der Kellerwohnung anwesende Frau Maidanek und
eine zu Besuch bei ihr weilende Bekannte sowie der Zeuge Ko. hervor. Ko.,
ein Angestellter der von dem Anfang November 1938 in Schutzhaft genommenen
Ehemann Maidanek betriebenen Schuhmacherei, hatte wie täglich nach
Geschäftsschluss um 19 Uhr Frau Maidanek zum Kassenabschluss aufgesucht. Er
war noch gerade vor Beginn des Sturmes in die Synagoge gelangt. Er führte
die beiden Frauen hinauf, die ängstlich um ihr Leben zitterten, da man
drohend in den Keller gerufen hatte: »Jude, komm’ heraus, gleich fliegt
die Synagoge hoch!« Frau Maidanek wandte sich um Schutz an den Angeklagten
[NSDAP-Kreisleiter] Drescher, der etwa zu dieser Zeit mit einem Stab von
Mittätern an der Synagoge angelangt war und das Zerstörungswerk in
Augenschein nahm. Der Zeuge Sp. will die Frau Maidanek eine kurze Strecke
Wegs begleitet haben. Sie suchte in Begleitung ihrer Bekannten und
beschützt durch den Zeugen Ko. die entfernt gelegene Wohnung eines
Schwagers auf, die sie unbehelligt erreichte.
Informiert
Euch über den jetzigen Zustand des Grundstücks an der Ecke Knoopstraße /
Eißendorfer Straße in Harburg. Was erinnert dort heute an die damaligen
Ereignisse?
Bei
ihrer Schwester Bertha, die mit dem nichtjüdischen Dachdecker Adolf Köster
verheiratet war, fand sie in jener Nacht Zuflucht.
Mein lieber
Jonni! Du wirst wohl um mich besorgt gewesen sein, weil ich seit ungefähr 3
Monaten nicht auch mitgeschrieben habe. Du kannst jedoch beruhigt sein, da
ich G'tt sei Dank wieder zuhause und gesund bin. Seit Anfang Dezember 38
haben wir kein Geschäft mehr. Es gibt seit 31.12.1938 überhaupt kein
jüdisches Geschäft mehr. Dieses und alle Ereignisse hier dürftest Du dort
wohl erfahren haben. Ich hatte vorübergehend einige Wochen außerhalb
Arbeiten verrichtet. Seit 5 Wochen bin ich wieder hier. Ja, es ist wahr, in
meiner Abwesenheit musste die liebe Mutti unsere Möbel anderswo
unterbringen lassen, so dass wir keine Wohnung mehr hatten. Deshalb wohnte
sie bei Onkel Adolf und Tante Bertha [Köster] bis 31.12.38. Jetzt haben wir
eine Teilwohnung in einem jüdischen Hause bekommen, in Hamburg, Nähe
Talmud-Torah-Schule. Bis 15.1.39 hatte ich den Bürgersteig vor der
Harburger Synagoge sauber zu halten. Jetzt ist es jedoch zu umständlich,
hinüberzufahren, so dass ich jetzt arbeitslos bin. Es ist möglich, dass
ich in einigen Tagen wieder Arbeit bekommen werde. [Karl Maidanek an John
Maidanek, 22. Januar 1939]
Überlegt,
warum Karl Maidanek seinem Sohn John nicht ausführlicher über die Ereignisse
des 9. und 10. November 1938 schreibt. l Versetzt Euch in die Lage von
Helene Maidanek und schreibt einen Tagebucheintrag für den 11. November 1938.
-
Wir
wohnen nun 7 Wochen in Hamburg und sind hierüber froh. Man nennt solche
Wohnungen, wie wir sie haben, Stiftwohnungen. Diese Häuser sind Eigentum
der jüdischen Gemeinde und deshalb auch die Wohnungsmieten viel billiger,
als die in Privathäusern. Wer nicht soviel Verdienst hat, dass er die Miete
bezahlen kann, behält trotzdem seine Wohnung. So ist es auch bei uns. Vom
16.1. - 31.1.39 konnten wir noch die Hälfte der Monatsmiete - sie beträgt
8,- RM - also 4,- RM, bezahlen. Weiter zahlten wir nicht. Wir werden
demnächst von der Gemeinde Unterstützung bekommen. Von der jüdischen
Winterhilfe erhielten wir Geldspenden von Neuwirth, Walzer, Greif, Laser und
anderen Juden. Frau Wellschmied, Lindenstraße, die mit Schneider Lang
wohnt, hat unser schwarzes Esszimmer (Möbel) zum Preise von 150,- RM für
ihren verheirateten Sohn abgekauft, weil wir hier doch nicht so viele
Möbelstücke benötigen. Von der jüdischen Gemeinde erhielten wir 50,- RM
als Entschädigung für die verlorene Dienstwohnung in Harburg. Mein lieber
Jonni, Du siehst, dass der liebe G'tt uns noch immer beisteht und wir bisher
noch nicht gehungert haben. Du brauchst Dir also um uns keine Sorgen zu
machen. Es wird in nächster Zeit möglich sein, in einem nichtjüdischen
Betrieb auch als Jude Arbeit zu erhalten. Zuerst hat die liebe Mutti für
einige Tage in der Woche in der Dammtor-Synagoge (Beneckestraße)
saubermachen geholfen. In letzter Woche habe auch ich dort mitgearbeitet. Es
ist möglich, dass wir auch weiter zwei Tage in der Woche dort arbeiten
werden. Vor zwei Wochen habe ich ein Zimmer tapeziert und die Decke gemalt.
Einmal habe ich einen Teppich geklopft und den Fußboden geschrubbt und
gebohnert - natürlich bei Juden. [Karl Maidanek an John Maidanek, 5. März
1939]
-
Zwangsarbeit
I:
Am 3.7.39 habe ich angefangen, in
einer Fabrik zu arbeiten. Vom Arbeitsamt wurde ich zu einer Wollkämmerei in
Wilhelmsburg - zwischen Hamburg und Harburg - vermittelt. Ich bin froh,
wieder produktiv sein zu können. Es gefällt mir ganz gut. Es werden dort
Wolle gereinigt und mit Maschinen gekämmt, dann gewickelt und in die
Textilindustrie weiterbefördert. Ich werde vom Fachmann angelernt - als
Aufpasser - d.h. wie die Maschinen bedient werden müssen. Wenn eine davon
versagt und nicht mehr arbeiten kann, so muss ich sie wieder in Ordnung
machen. In den ersten sechs Tagen lernte ich bereits, viele schwierige
Instandsetzungen von Maschinen myself auszuführen. Wenn ich einst ins
Ausland kommen werde, wird es leichter sein, Arbeit zu finden. Außer zu
Erdarbeiten - wie Herbert - werden jetzt jüdische Männer und Frauen auch
in Fabriken eingestellt. Mit mir arbeiten ca. 50 jüdische Männer und
Frauen - auch Mädchen. Wir werden dort ebenso gut behandelt, wie die
arische Gefolgschaft. Ich fahre mit der Straßenbahn und bin vor 6 Uhr an
meinem Arbeitsplatz. Von 10 - 10 1/2 Uhr ist Frühstückszeit. Dann arbeiten
wir bis 3 oder 4 Uhr. Last week I did work 53 hours. [Karl Maidanek an John
Maidanek (undatiert)]
Erklärt
aus dem Text, warum Karl Maidanek englische Begriffe verwendet.
Es sind jetzt genau acht Wochen,
dass ich zu arbeiten begonnen habe. Bei den Kamm-Maschinen war ich nur zwei
Wochen, wo ich Aufpasser werden sollte. Wegen Erkrankung eines jüdischen
Arbeitskameraden musste ich nach einem anderen Arbeitsplatz versetzt werden.
Auch dort gefällt es mir sehr gut. Ich muss Zellwolle (aus Holz gewonnen)
aus großen Säcken auspacken, sie in Körbe hineintun und 13 Krempmaschinen
mit dieser Wolle versorgen. Wenn sie durch die ersten Maschinen
durchgegangen ist, so sieht sie wie Watte aus. Dann kommt diese
haarzopfähnliche Wolle in die Kamm-Maschinen, wo ich zuerst war, zur
weiteren Verarbeitung, bis zur Spinnerei hin. Der Stundenlohn beträgt 67
Pfennige. Jeden Freitag bekommt man eine Lohntüte, wo das Geld und eine
Aufstellung drinnen liegt. Vom Bruttolohn werden abgezogen: Lohn- und
Bürgersteuer, Gebühren für Kranken- und Invalidenversicherung, so dass
ich ca. 32,- RM die Woche netto verdiene. Es arbeiten jetzt dort 60 - 80
Juden und Jüdinnen. Letztere bekommen einen Stundenlohn von 42 Pfennigen.
[Karl Maidanek an John Maidanek, 27. August 1939]
Informiert
Euch über Durchschnittsverdienste im Jahr 1939.
Dies ist der zeitlich
letzte Briefauszug, den John Maidanek zur Verfügung stellte. Was spricht
dafür, was dagegen, dass dies auch der letzte Brief war, den er von seiner
Familie erhielt?
Am
25. Oktober 1941 wurden Helene, Karl und Herbert Maidanek nach Lodz in das Getto
Litzmannstadt deportiert.
Die
letzten Zeugnisse, die über sie Auskunft geben, sind ihre erhalten gebliebenen
Meldekarten der Gettoverwaltung.
Karl
Maidanek bezog laut Anmeldekarte »mit 3 Personen 1 Zimmer in der Wohn.Nr.17 an
der Flisacka Nr. 4 Reg.Nr. 31179 Karten Nr. 165806«.
Für
Helene Maidanek und ihren Sohn Herbert sind auf den Anmeldekarten jeweils die
gleichen Adressangaben verzeichnet.
Es
existiert für Karl Maidanek auch eine Abmeldekarte vom 18. März 1942. Er
»verließ am 16.3.« die Wohnung Nr. 17, »Ursache: Tod«. Er starb im Alter
von 52 Jahren fünf Monate nach der Deportation nach Lodz.
|
|
Anmeldekarte für Karl Maidanek |
Abmeldekarte für Karl Maidanek |
|
|
|
|
Anmeldekarte für Helene Maidanek |
Abmeldekarte für Helene Maidanek |
|
|
|
|
Anmeldekarte für Herbert Maidanek |
Abmeldekarte für Herbert Maidanek |
|
|
Herbert
Maidanek wurde zehn Monate, nachdem er Hamburg verlassen hatte, am 24. August
1942 für den Vortag abgemeldet. Ursache: »Tod – Unterernährung«.
In
ihrer Abmeldekarte 12. September 1942 heißt es über Helene Maidanek, sie habe
die letzte Wohnung zwei Tage zuvor verlassen, unter »Grund« steht:
»ausgewiesen« - ein Deckbegriff vermutlich für den Weitertransport in ein
Vernichtungslager.
Der
einzige Überlebende der vierköpfigen Familie ist John Maidanek.
Leider musste ich zwischen 1945 und 1946 mein Studium unterbrechen, um meiner
Wehrpflicht nachzukommen. Das einzige Schöne daran war, dass ich während
meiner Militärzeit als Besatzungssoldat nach Japan geschickt wurde, wo ich die
Gelegenheit nutzte, die japanische Umgangssprache zu erlernen. Nach
meiner Entlassung im Jahre 1946 zog ich nach New Jersey, um bei der Familie
meines Vetters, Friedrich Rotter, zu leben. Friedrich war 1943 von England nach
Amerika gekommen. Ich
setzte mein Studium an der New York University mit dem Schwerpunkt Französisch
fort, das ich 1948 beendete. Von 1951 bis 1973 unterrichtete ich nicht nur an
Oberschulen und Highschools unterrichtet, sondern auch eine Reihe von Kursen
belegt, die mir weitere Abschlüsse eintrugen. 1965 erhielt ich den M.A., 1973
den Dr.phil., jeweils mit Schwerpunkt Französisch. Von 1973 bis zu meinem
Eintritt in den Ruhestand unterrichtete ich an verschiedenen Lehranstalten und
Universitäten. Gelegentlich lehre ich noch heute die deutsche Sprache, jedoch
nur in der Unterstufe.
Quellen:
-
Auszüge aus Briefen von Dr. John Maidanek an Matthias Heyl vom 1. Januar und
12. Februar 1989
-
Auszüge aus Briefen von Karl und Herbert Maidanek an John Maidanek
-
Auszug aus den Memoiren von Johanna Meier, in Auszügen zur Verfügung gestellt
von ihrem Enkel Gershon Netzer (Gerd Pommerantz)
-
Auszug aus dem Urteil des Schwurgerichts Hamburg (50) 141/48 14 JS 70/46,
Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg, Ordner
12/D gegen Drescher u.a.
-
An- und Abmeldekarten der Gettoverwaltung, für Karl, Helene und Herbert
Maidanek, beglaubigte Kopien aus den Beständen des Archiwum Panstwowe Lodz.