Überlebt
Fritz
Sarne (* 24. Mai 1906 Berneburg/Saale) lebte und arbeitete zwischen 1927 und
1934 in Harburg. Er beschrieb seine Erinnerungen in einer Tonbandaufzeichnung,
die auf den 8. Januar 1990 datiert.
Ich wurde am
24. Mai 1906 in Berneburg an der Saale geboren. Ich kam 1927 nach Harburg.
Damals war Jakob Findling, von dem Sie meine Adresse haben, noch ein
Schüler. Sein Bruder Benno war Lehrling bei der Firma Bernhard Meier, wo
ich gearbeitet habe, und auch seinen Bruder Alfred kannte ich gut. Jakobs
Eltern hatten ein kleines Geschäft in einer Seitenstraße, an deren Namen
ich mich jedoch nicht mehr erinnere. Seine Kenntnis über meine Harburger
Zeit beruht eigentlich erst auf unserem Zusammentreffen nach der Befreiung
im Jahre 1945. Ich bedaure sehr, dass ich nicht in der Lage bin, zu Ihrer
Forschungsarbeit über die Harburger Gemeinde einen messbaren Beitrag zu
leisten, da ich außer meiner beruflichen Tätigkeit und einem Zwischenfall,
der sich am 1. April 1933 zutrug. keine weitere soziale Verbindung zur
Harburger Gemeinde hatte. Ich bin wie jeder andere an den Feiertagen in die
Synagoge gegangen. Ich habe mehrere Jahre in der Kasernenstraße 38 gewohnt,
dann bin ich nach der Werderstraße [heute: Am Werder] gezogen, was in der
Nähe des Geschäftes war, wo ich beschäftigt war. Meine Zeit in Harburg
war beendet mit dem Verkauf des Geschäftes an einen Herrn Göttsche,
damals, 1933, in der Früh-Hitler-Zeit, nachdem Hitler zur Macht kam und der
Buchhalter Sass, wohnhaft Am Reeseberg, alles versucht hat, mich in
Verbindung mit dem Gauwirtschaftsleiter Dietrich, der auch dort als
Dekorateur beschäftigt war, aus meiner Anstellung zu bringen, was ihm auch
gelang, weshalb ich 1934 nach Hamburg verzog, wodurch meine Harburger Zeit
beendet war.
Hamburg:
Ich war in Hamburg bis zum 31. Dezember
1938 bei einer Firma beschäftigt, die von zwei Nazis übernommen wurde, die
aus dem Fleischerberuf kamen und keine Ahnung von der Fabrikation von
Herrenbekleidung hatten, worin ja meine berufliche Tätigkeit lag. Sie haben
mich bei der November-Aktion versteckt, haben gesagt, dass in ihrem Betrieb
keine Juden beschäftigt seien.
Zwangsarbeit:
Ab dem 6. Juni 1939 wurde ich vom
Hamburger Arbeitsamt zum Arbeitseinsatz, zum Judeneinsatz, zur Zwangsarbeit
verpflichtet. Ulkigerweise kam ich nach Harburg zurück, zur Rhenania/Ossag,
wo ich mit einer »Judenkolonne«, bestehend aus 50 Leuten, die niemals zuvor
Erdarbeiten verrichtet haben, Planierungsarbeiten für neue Tankanlagen auf
dem Gelände der Rhenania/Ossag geleistet habe. Nachdem diese Arbeiten beendet
waren, war ich an der Elbbrücke an der Wilhelmsburger Seite mit Kabelarbeiten
beschäftigt, bei der Firma Burmeister, habe schwerste Erdarbeiten in Wandsbek
bei der Verlegung des Rundfunkkabels Hamburg-Berlin leisten müssen. Außerdem
war ich zu Tarnungsarbeiten an der Lombardsbrücke eingesetzt. Ich war dann
bis zu meiner »Evakuierung« am 25. Oktober 1941 nach Litzmannstadt im
Eppendorfer Krankenhaus mit Vorbereitungen für Luftschutzkeller-Erdarbeiten
tätig, wo ich noch am Nachmittag eine Verletzung erlitt, die jedoch nicht
anerkannt wurde – vielleicht zu meinem Glück, das weiß man heute nicht zu
sagen – so dass ich zur Moorweide gehen musste, in der Feldbrunnenstraße
meine Schlüssel abgeben musste. Damals wohnte ich in dem »Judenhaus«
Heinrich-Barth-Straße 8.
Deportation:
Wir waren 1.037 Menschen jeden Alters
in unserem Transport, Hamburger und ein Teil Harburger. Von diesem Transport
haben nachweislich nur drei Leute überlebt.
Im
Getto:
Menschen wurden vom Komfort
ihrer Wohnungen und ihres Lebens genommen, mussten in einem Saal mit je
fünfhundert Leuten hausen. Eine Gruppe kam ins Kino, ein anderer Teil,
darunter die meisten Harburger – auch Prediger Gordon – in die Schule. In
den ersten Tagen waren wir ganz ohne Matratzen und Lebensmittel. Ich erinnere
mich an den ersten Gottesdienst, den ein Herr Plessner im Kino abhielt, in der
Melodie des Versöhnungstages – das war ein besonderes emotionales Erlebnis.
Meine durch Erdarbeiten erworbene gute körperliche Kondition erlaubte es mir,
mich als Totengräber auf dem Lodzer Friedhof zu melden, wofür es mehr Brot
gab, eine Scheibe Brot vielleicht, die ich mit den Leuten aus meiner Baracke,
wo wir zu zwölft, Männer und Frauen, in einem engen Raum zusammengepfercht
waren, teilen konnte.
Beerdigt:
Ich habe eine Reihe von Harburgern dort
beerdigt, derer Namen ich mich nicht mehr entsinnen kann. Ich erinnere mich
jedoch eines Morgens im Februar 1942, an dem ich an der Friedhofsmauer, die
von Schutzpolizei gesichert wurde, arbeitete. Da sah ich einen Lastwagen, auf
dem ich einige Harburger, darunter Prediger Gordon, erkannte - ich sehe ihn
noch heute, mit seinem kleinen Spitzbart, mit seiner Brille, mit Gepäck (wir
hatten ja nur 12 Kilo Gepäck), auf dem Lastauto an der Friedhofsmauer
vorbeifahren. Und nach ungefähr zwei Stunden kehrten die Autos leer zurück.
Später erfuhr ich, dass im in der Nähe gelegenen Chelmno eine
Vergasungsanstalt bestand, in der unsere Leute umgebracht wurden.
Posen-Gutenbrunn:
Ich hatte mich 1942 freiwillig zu einem
Transport gemeldet, für Innenarbeiten im Ruhrgebiet. Es wurde versprochen, es
gäbe dort Wurst und Brot extra. Als der Transport mit etwa 150 kräftigen
Menschen im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren verladen wurde,
bemerkten wir, dass es weiter nach Osten ging, anstatt nach Westen, dorthin,
wo jeder Stationsnahme den Zusatz »Warthegau« trug. So erreichten wir einen
Ort namens Posen-Gutenbrunn, wo wir von dortiger Polizei nach einem
Reichsbahn-Arbeitslager geführt wurden. Dort mussten wir unter
unmenschlichsten Bedingungen schwerste Arbeiten an der neuen Bahnstrecke
Posen-Kudno verrichten. Dort hatte ich eine Begegnung mit einem Harburger, auf
die ich später zurück komme. Das Arbeitslager wurde Ende August 1943 mit dem
verbliebenen Rest, denn die Leute starben dort wie die Fliegen, nach Auschwitz
überstellt. Wir waren noch 141 in unserer Gruppe. Wir wussten vom
Hörensagen, dass Auschwitz ein Vernichtungslager war, wir ahnten jedoch
nicht, was uns dort erwartete.
Auschwitz:
Nach einer Zeit in Quarantäne wurde
ich in eine Kohlengrube der I.G. Farben-Industrie überstellt, in die Grube
Gutehoffnung, Janina-Grube, Auschwitz-Monowitz III. Ich war dort, nachdem ich
in der Grube gearbeitet hatte, und sich dort kein anderer deutschsprachiger
Häftling gefunden hatte, als Rapportführer eingesetzt worden. Ich hatte
jeden Tag dreimal die Appelle abzuhalten und dem Lagerführer zu melden. In
dessen Büro hatte ich Zugang auch zu Geheimbefehlen, die ich unter
Lebensgefahr, wenn er mal den Raum verließ, nachsuchte, und die mich nach der
Befreiung befähigten, als Zeuge gegen Schmidt und Consorten im
I.G.Farben-Prozeß auszusagen. Das Lager wurde am 8.Januar 1945 auf den
Marsch, heute in den Annalen als Todesmarsch bezeichnet, nach Westen gesetzt.
Wir waren 60.000, und weniger als die Hälfte wurde im Westen befreit.
Überlebt:
Am 1.Mai 1945 wog ich 88 Pfund. Unser
Zug hielt mit tausend Personen in Tutzing, das mir aus der Geschichte her mit
dem Namen Ludendorff in Erinnerung war. Nachdem ich drei Monate in einem
amerikanischen Hospital von meinen Wunden genesen war, fuhr ich mit einem
Freund, der mich in dem DP-Lager Feldafing fand, per Anhalter nach Hamburg
zurück, wo ich im August 1945 eintraf. Ich musste leider erfahren, dass meine
Mutter mit ihren drei Schwestern und Cousinen in Auschwitz umgekommen waren,
während mein Bruder bereits 1934 nach Palästina ausgewandert war und so auch
überleben konnte.
Rückkehr
nach Hamburg:
Ich habe mich in Hamburg
in der Dillstraße niederlassen können, und ich habe auch Harburg wieder
besucht. […] 1946 war ich Zeuge im Nürnberger I.G.Farben-Prozess. 1947
heiratete ich Margret Hoffmann, ebenfalls eine Verfolgte, in der Hamburger
Kielerort-Synagoge. Am 11. Juni 1949 wurde unser Sohn geboren. In den Jahren
1946 bis 1950 arbeitete ich als Custodian für entzogenes und enteignetes
jüdisches Vermögen durch den Hamburger Senat und als Property Control für
drei Firmen. Am 15.Februar 1950 erhielten wir unser Affidavit für die USA.
USA:
Unter Aufgabe meiner Positionen, die
mir ein gutes Auskommen in Deutschland gesichert hätten, zogen wir es vor,
mit unserem sechs Monate alten Sohn in eine ungewisse Zukunft in ein freies
Land zu gehen, um nicht unter Mördern zu leben und um unserem Kind eine
jüdische Erziehung zu geben. Hier angekommen, der Sprache nicht mächtig,
nahm ich sofort einen Nachtjob als Reiniger bei Supermärkten an. Am Tage war
ich als Gartenarbeiter beschäftigt. Meine Frau musste Heimarbeit verrichten.
Als alter Gewerkschafter erhielt ich ein Jahr später durch die amerikanische
Gewerkschaft einen Job als Dekorateur in einer Herrenbekleidungs- Firma, der
größten der USA, wo ich mich später zum Manager einer Abteilung
hocharbeitete. 1972 ging ich in Rente. Damals begann das Gespräch über den
Holocaust erst, und mir kam erst damals die ganze Brutalität und der
Vernichtungswille der Nazis richtig zu Bewusstsein. Deshalb habe ich bis zum
heutigen Tage versucht, in Wort und Schrift alles zu tun, um die Menschheit
niemals vergessen zu lassen, damit es sich nie wiederhole. […]
Mein Besuch in Harburg mit dem veränderten Straßenbild, mein Besuch des
früheren Synagogen-Platzes und des jüdischen Friedhofes, des guten Ortes,
brachte eine Erinnerung zum Vorschein, die mit dem 1. April 1933 dem
Boykott-Tag gegen jüdische Geschäfte, zusammenhängt.
1.
April 1933 – Begegnungen:
Ich wollte
wie jeden Tag mit dem Dekorateur der inzwischen bereits an Göttsche
verkauften Firma zum Mittagstisch ins Central-Hotel am Sand gehen. Ich sah vor
den Geschäften jüdischer Inhaber die grölenden SA-Horden um Fritz Konerding,
der ein Geschäft in der Wilstorfer Straße hatte und ein Obernazi war. Sie
standen vor dem Kaufhaus Horwitz, vor Steins Bettenhaus, vor M. M. Friedmann,
die alle von der SA belagert waren. Und als ich zum Sand kam, versuchte die
SS, die SA, mich an dem Betreten des Central-Hotels zu hindern, an der Spitze
ein Herr Wilhelm Koppe. Wilhelm Koppe war ein Kaffeegroßhändler, der auf der
Westseite des Sandes sein Büro hatte und früher ein guter Kunde bei Bernhard
Meier war. Ich habe ihm viele Maßanzüge verkauft, er trug nur englische
Stoffe. Seine Eltern waren sehr gute Kunden. Er wollte mich verhaften, was von
einem Schupohauptmann, den ich sehr gut kannte, verhindert wurde. In dem
Reichsbahn-Arbeitslager Posen-Gutenbrunn wurde eines Tages der Befehl
ausgegeben, dass alle Insassen zum Appell anzutreten hätten, der durch
Gauleiter Greiser und den Höheren SS- Polizeiführer Ost,
SS-Obergruppenführer Wilhelm Koppe, abgenommen wurde. Mein
Gefühl, das ich damals hatte, kann ich kaum schildern, als ich den
SS-Standartenführer der SS-Standarte 17, den Harburger Kaffeegroßhändler
Wilhelm Koppe, in seiner prachtvollen SS-Uniform mit weißen Aufschlägen an
mir vorbeimarschieren sah, um unseren Elendshaufen zu besichtigen. Das war ein
Zeichen dafür, wozu es ein Nazi in der Nazi-Hierarchie bringen konnte.
Später wurde er, wie ich hörte, angeklagt, für den Tod von über 300.000
jüdischen Verfolgten verantwortlich zu sein.
Fritz
Sarne ist Mitte der neunziger Jahre in den USA verstorben.
Vergleicht
die Lebensläufe von Fritz Sarne und dem im Text erwähnten Wilhelm Koppe nach dem Krieg.
Quellen: